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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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einmal sah er auch die junge India wieder vor sich, der er, tatsächlich oder im Ohnmachtstraum, durch die Gassen von Belize Town gefolgt war und deren Schattenriß er auf seiner eigenen Zeichnung wiederentdeckt hatte. Auch das war ganz und gar unerklärlich, dachte Robert, so rätselhaft wie das Gebaren des uralten Maya, und für einen Moment war ihm, als schaue er, wie durch einen Riß im Boden, von hoch oben in eine fremde, erregende Welt. Währenddessen blickte er immer wieder zu den beiden jungen Mestizen hinüber. Mabo hatte die Pferde inzwischen vollständig besänftigt, ruhig standen sie im Baumschatten, mit gesenkten Hälsen, an denen Futtersäcke baumelten. Henry hielt sich dicht an der Seite des Älteren und ahmte geflissentlich jede seiner Bewegungen nach.
    Wie Stephen und Paul beschlossen hatten, würden sie ihre Flucht zu Pferde fortsetzen, auf einem versteckten Knüppelpfad, der wenige Meilen voraus vom Fahrweg abzweigte. Vorher würden sie die Kutsche hier in der Schlucht versenken, in der Hoffnung, daß die Soldaten sich täuschen ließen und ihre Spur verloren. Ein verzweifelter Plan, wie Robert fand, aber Paul hatte eingewendet, daß die Finte ihnen lediglich einen Vorsprung sichern sollte, damit sie Victoria Camp am Labouring Creek rechtzeitig vor den Soldaten erreichten. In die Wildnis hinter dem Holzfällerlager vorzustoßen, hatte Stephen verkündet, würden die Soldaten Ihrer Majestät nicht einmal in Garnisonsstärke wagen, geschweige denn ein Fähnlein von sieben Mann. Denn jenseits von Victoria Camp regiere nicht mehr die Königin gleichen Namens, »sondern - zum Donner - das Gesetz der Wildnis«.
    Paul zog die Kutschentür auf, und er und Stephen holten ihre Habseligkeiten aus der Kabine, den schwarzen Koffer und den unförmigen Seesack. Alles, was er selbst besessen hatte, dachte Robert, war in Molton House zurückgeblieben, außer den unzweckmäßigen Kleidungsstücken, die er am Leib trug, und der korkfarbenen Schultertasche mit den wenigen Dingen, die er heute zufällig mit sich geführt hatte: seinen Zeichenutensilien, der eingenähten Barschaft und einem zerfledderten Exemplar der »Ansichten alter Mayastätten« des verehrten Frederick Catherwood. Er klopfte auf die Tasche an seiner rechten Schulter, um sich zu vergewissern, daß die Pfundnoten tatsächlich noch im Futter raschelten, und beschloß, nun doch auf die andere Wegseite zu gehen, in den Schatten des zwanzig Fuß hohen Dickichts.
    Es war unerträglich heiß, und nach den Stunden im Halbdunkel der Kutsche schmerzte die gleißende Helligkeit in seinen Augen. Zum ungezählten Mal wischte er sich mit dem Ärmel über Gesicht und Hals, eine sinnlose Geste, denn unablässig rannen ihm weitere Schweißtropfen aus dem Haar. Während er den Fahrweg überquerte, spürte er schon, wie sich in seiner Stirn ein vertrauter Kopfschmerz vorbereitete, der ihn tagelang peinigen würde.
    Die Sonne stand schräg über der Schlucht, in einem Kranz schwarzer Wolken, doch nicht der geringste Windhauch regte sich. Robert ging auf die grüne Wand des Waldes zu, und für einen Moment fürchtete er, daß ihm übel werden, er die Besinnung verlieren würde, vor Erschöpfung oder einfach vor Angst. Die Wildnis, dachte er, und es war mehr ein Rauschen in seinem Kopf, der Dschungel, und es war kein Gedanke, sondern ein Toben und Tosen. Tief in seinem Innern, fern und leise, spürte er zugleich ein jauchzendes Entzücken, unmäßige Freude, da er nun doch einen Stoß erhalten hatte und Hals über Kopf in den Dschungel gestolpert war, die Welt seiner ungeheuerlichsten Träume. Doch viel lauter, viel gewaltiger als das zirpende Entzücken in einem Winkel seiner Seele war die Angst, eine Bestie, die ihn auf einmal ansprang, gedankenschnell.
    Im ersten Augenblick glaubte er schreien zu müssen oder sogar, daß es zu spät wäre selbst für diesen Schrei. Die Angst umklammerte seine Kehle, ein gefräßiges, riesenhaftes Tier. Das Gesetz des Dschungels, schrie es in ihm, halbe Nächte hatten Paul und Stephen von arglosen Reisenden erzählt, die von Jaguaren überrascht wurden, nachts im Schlaf oder am hellichten Tag. Dank ihrer gewaltigen Kiefer, so Paul, zermalmten Jaguare mit einem einzigen Biß selbst Schulter-oder Schenkelknochen, und noch ehe das Opfer sein Leben verröchelt habe, werde sein Fleisch von den Reißzähnen der Riesenkatze zermahlen.
    Robert wankte in den Schatten und zwang sich, gleichmäßig aus-und einzuatmen. Sein Herz raste, und hinter

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