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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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er sich das nur ein? Daß er mit seiner Bahre mitten in dem steilen Felsgang stand, vierhundert Fuß unter der Erde? Daß das Bildnis linker Hand zum Leben erwacht war, die Fledermäuse in der hohen Halle, ihr flehendes Opfer am Boden? Sicherlich nicht, dachte er, es war kein Gemälde, es mußte ein Loch in der Mauer sein, dahinter ein Raum, in dem sich wirkliche Wesen befanden. Wie anders ließe sich erklären, daß er die Schreie der Fledermäuse hörte, ihr pfeifendes »Kilitz«?
    Der kniende Mann hob die Hände empor und stieß einen Redeschwall aus. »Tzotz!« glaubte Robert zu verstehen, und da fiel ihm ein, was Mabo vorhin gewispert hatte, von Xibalbá, der neunfaltigen Unterwelt der Mayagötter, die in Schreckenspalästen residierten. Dort drinnen, das mußte der Palast von Tzotz sein, dem großen Fledermausgott, dem furchtbaren Todessauger, dachte er, einen Aufschrei unerdrückend: Ein riesiger schwarzer Schatten war auf den Mann herabgestoßen, funkelnde Augen, dunkel schimmernde Krallen, schneller als ein Gedanke, ein Wunsch, eine Täuschung, schon wieder emporgestoben, in seinen Fängen der abgerissene Kopf des Knienden, dessen enthaupteter Leichnam nach hinten umgefallen war.
    Lange dachte Robert darüber nach, ein dunkler Schrecken war von dem Fledermausgott ausgegangen, aber auch eine Verheißung, so als ob er seine Opfer nicht einfach in den Tod hinüberrisse, sondern durch alle Unterwelten der Nacht hindurch trüge, bis in die Morgendämmerung eines neuen Tages. Es waren nicht eigentlich Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, eher ein Huschen schattenhafter Bilder, begleitet vo n machtvollen Gefühlen, Angst, Schauder und Hoffnung in einer Reinheit und Stärke, wie er sie nie zuvor empfunden hatte. Vage war ihm bewußt, daß all diese Täuschungen, die Bewegung der Bilder, der übermäßige Eindruck, den sie in ihm hervorriefen, durch die Dämpfe ausgelöst sein mochten, die von den Fackeln aufstiegen. Aber es schien ihm, daß diesen Bildern gleichwohl eine tiefe Wahrheit innewohnte, wie es ihm nun auch vorkam, als ob er mit seiner Trage reglos am Boden läge und zugleich weiter durch den Gang getragen würde, von Ajkech und Mabo, der wie vorhin voranging.
    Weitere Bilder zogen vorbei, schwarze Geier von unfaßbarer Plumpheit, die die Eingeweide aus dem offenen Bauch einer toten Frau zogen, dann ein rücklings daliegender Mann, golden schillernd und wie in Fieberschauern vibrierend, und als sie näher herankamen, war sein Gesicht, sein Kopf, jeder Zoll seines Leibes mit wimmelnden, goldfarbenen Aaskäfern bedeckt. Robert starrte ihn an, erfüllt von Grauen: Der Goldene lag in einer Höhle, es war das gleiche flirrende Gold wie damals, im Park des Gouverneurs. Indem er das bauchige Gewölbe genauer betrachtete, wurde ihm klar, daß es sich um einen Mutterleib handelte. Der goldene Mann schlief, dachte er, es war ein ausgewachsener Mann, von kräftiger Statur, und doch träumte er seiner Geburt entgegen, ein fauliger Leichnam, von Tausenden Käfern zerfressen, und doch würde er zu neuem Leben erwachen. Auf einmal war ihm, als hätte sich das tiefste Geheimnis des Lebens vor seinen Augen entschleiert. Er sah auf den wimmelnden, schimmernden Leichnam, aber die Aaskäfer flößten ihm kein Grauen mehr ein. Ihr goldener Glanz, dachte er, ist schon der Abglanz der wirklichen Sonne, die er bald wieder sehen, auf seiner Haut fühlen wird. Aber zugleich war ihm, als könnte er niemals mehr lebendige, in der Sonne schimmernde Haut erblicken, ohne an diese goldenen Aaskäfer zu denken, den Träumer im Grabgewölbe des Mutterleibs.

2
     
     
    »He, laß das! Tollwütig geworden, wie?« Die Stimme, hell und kreischend, kam ihm bekannt vor, übel vertraut sogar. »Laßt eure Pfoten von mir, sag' ich!«
    Rücklings auf seiner Trage liegend, hob er den Kopf an und sah eine schmale Silhouette, hin-und hergeworfen wie in wüstem Kampf. Gedrungene Schatten tanzten um sie herum, mit plumpen Gebärden. Mary, dachte er, Miriam, und indem er den Kopf zurücksinken ließ, fiel sein Blick auf das monumentale Gemälde, das die Decke über ihm bedeckte und sich zu beiden Seiten über die Wände hinunterzog. Er wandte den Kopf, nach links und rechts, wieder zur Decke hinauf und hinab zum Boden. Der gesamte Gang, jeder Zoll der rohbehauenen Felsen, war mit schattenhaften Szenen bedeckt. Warum nur hatte er diese Bilder nicht früher bemerkt? Robert starrte sie an, Ekel stieg in ihm auf, Abscheu, der sich bald schon mit heißem

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