Im Tempel des Regengottes
den Dörfern und Wäldern der Kolonie in White House vorstellig, um wegen Grundstreitigkeiten zu verhandeln, sich über tyrannische Landlords zu beschweren oder auch, um der »bleichen Königin jenseits des großen Wassers« im Namen eines aufständischen Stammes feierlich den Krieg zu erklären. Die junge Miss Harmess aus dem Schreibsaal der Kopisten, die nicht nur ein elegantes Englisch sprach, sondern auch erstaunlich glatt in Quiché zu zwitschern vermochte, wurde als Mittlerin zwischen Beamten und Indios bald schon unentbehrlich. Da sie früher viele Stunden im Kreis der indianischen Küchenmädchen von Sutherland House verbracht hatte, konnte sie sich nun leicht in die Gedankenwelt der Männer aus den Regenwäldern hineinversetzen, die in verschlungener Rede von der Rache der Götter sprachen oder von ihrem Argwohn, der britische Landlord habe einen Zauber gegen seine indianischen Feldarbeiter gewirkt.
Mit der Zeit lernte Helen auch, daß es selten ratsam war, den Sermon der Beschwerdeführer wortgetreu zu übersetzen. In ihrem Zorn stießen die Indioabgesandten häufig Drohungen gegen die »mondhäutigen Eindringlinge« aus, die ihnen Prügelstrafen oder sogar Karzerhaft eintrugen. Einmal mußte Helen das Begehren eines alten Maya mannes aus dem westlichen Sumpfland von Britisch-Honduras übersetzen, der in endlosem Redestrom über die Willkür des königlichen Distriktverwalters klagte. Dieser, ein gewisser John Butterford, entehre und schwängere die Indiomädchen, die in seinen Diensten arbeiteten, doch entgegen den unverbrüchlichen Gesetzen der Götter weigere er sich, seine Töchter und Söhne in sein Haus aufzunehmen und für sie zu sorgen.
Für seinen Auftritt vor der Gouvernementverwaltung hatte der alte Indio seine feierlichste Tracht angelegt, ein bunt besticktes Hemd und blütenweiße Beinkleider, mit einer maisgelben Schärpe gegürtet. Hochaufgerichtet stand er in der königlichbritischen Amtsstube, umringt von einem halben Dutzend schwitzender Beamter, die allesamt Mühe hatten, ihre Erheiterung zu verbergen. Helen stand ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Tür. Es war bereits ihr fünftes Jahr im Dienst des Gouverneurs, und eigentlich hatte sie längst gelernt, im Interesse der Bittsteller und Beschwerdeführer ihre Zunge zu hüten. Doch im Sog des melodischen Klagestroms dieses alten Abgesandten übersetzte sie diesmal Wort für Wort, mit schallender Stimme, ohne an irgendwelche widrigen Folgen zu denken. Ihr Blick haftete auf dem Gesicht des Greises, der ihr in diesem Moment als Verkörperung aller Qualen und Leiden der Indios (und ein wenig auch ihrer eigenen) erschien. Seine dunkelbraune Haut war von tiefen Furchen durchzogen, das dichte graue Haar hing ihm bis auf die Schultern herab, und seinem nahezu zahnlosen Mund entquollen unablässig Verwünschungen und Klagen.
Hinter ihrem Rücken wurde die Tür geöffnet und gleich wieder geschlossen, doch Helen nahm es nur am Rande wahr. Sie spürte den Blick des alten Mannes auf sich, einen Blick voller Zorn und Trauer, aber auch voll Vertrauen, daß sie, die halbblütige Dolmetscherin, seine gerechte Sache vertreten werde. »Daher verlangen wir, die Ältesten des Dorfes Ixt'u'ulchac, das heißt Rote Häsin«, übersetzte sie eifrig, »daß Mr. John Butterford bestraft, seines Amtes enthoben und dazu verurteilt wird, alle von ihm gezeugten Kinder als seine rechtmäßigen Söhne und Töchter - «
»Genug.« Die Stimme in ihrem Rücken klang kalt und vollkommen beherrscht. »Das ist Anstachelung zum Aufruhr. Der Mann ist in Fesseln zu legen und dem Ehrenwerten Richter vorzuführen.«
Helen brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem diese Stimme gehörte. Doch als sie sich dann umwandte, erschrak sie über die Totenblässe in seinem Gesicht. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, aber nicht mißbilligend oder tadelnd, eher verstört und sogar beschwörend, wie ihr schien.
Als es ihr endlich gelang, sich von Mr. Sutherland abzuwenden, lag der alte Indio bereits am Boden, seine Tracht zerrissen, seine Hände hinter dem Rücken verschnürt. Sie brachte es nicht über sich, ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, aber sie spürte seinen Blick, zornig und flehend, auf ihrer Seite, und sie glaubte ihn noch am Abend dieses Tages im April 1878 zu spüren, ein Brennen auf Wange und Schläfe, heiß vor Verwirrung und Scham.
Das Lügengefühl. Sie war zweiundzwanzig, eine erwachsene Frau, und noch immer schlich das Gespenst ihrer Kindheit hinter ihr
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