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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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her.
    Der ungreifbare, unwiderlegbare Argwohn, daß irgend etwas in ihrer Welt, ihrem Leben von Grund auf falsch war: gelogen, zwielichtig, gefälscht. Sie ging in ihrer Mansarde auf und ab, zwischen den schrägen Wänden unter dem Dach von Sutherland House. Warum sind Sie derart vehement für jenen Butterford eingetreten, mein Herr? ›Das ist Anstachelung zum Aufruhr.‹ Und woher die Totenblässe in Ihrem Antlitz, Mr. Sutherland? Was war das für ein Geist, den Sie auf einmal zu sehen glaubten? Sie preßte ihre Fäuste gegen die Schläfen. Die beiden Namen - Butterford, Sutherland - echoten in ihrem Kopf. Konnte es wahrhaftig sein -?
    An jenem Abend brachte Helen noch nicht den Mut auf, sich in Gedanken auf diesem furchterregenden Weg voranzutasten. Es würde so vieles erklären. Doch es würde auch alles zerstören, ihre ganze bisherige Welt.
    Aber die Lunte des Argwohns, einmal entzündet, brannte fort und fort.

6
     
     
    Keine zehn Tage darauf, am 14. April 1878, besuchte Helen an der Seite von Dorothy Harmess den sonntäglichen Gottesdienst in St. John's Cathedral. Die Predigt des Geistlichen, die biblischen Verheißungen, der schüttere Gesang der Gemeinde erschienen ihr weniger tröstlich denn je. Auch sie sehnte sich nach Erlösung, vielleicht brennender als jeder andere in dieser Backsteinkathedrale, aber was sie suchte, würde sie niemals im Schoß der Anglikanischen Kirche finden. Weiter vorne im Kirchenschiff, im Bereich der Ehrenbürger von Fort George, saß Robert Thompson, mit himmelwärts gesträubtem Bürstenschopf, alle Gläubigen um Haupteslänge überragend. Seit Tagen, im Grunde seit jenem Zwischenfall mit dem alten Indio, spürte Helen, daß etwas Umwälzendes geschehen würde, bald schon, und sie fieberte dem Ereignis entgegen, ohne im mindesten zu ahnen, worin es bestehen mochte.
    Am Nachmittag ging sie in ihrer Mansarde auf und ab, wie es ihr längst zur nervösen Gewohnheit geworden war. Der Himmel vor ihrem Fensterchen war bleifarben, und unter dem Dachstuhl herrschte drückende Schwule. Endlich überwand sich Helen und stieg die knarrenden Treppen hinab, um im Patio von Sutherland House, zwischen Bäumen und Wasserkaskaden, ein wenig Abkühlung zu suchen. Der Innenhof war weitläufig, ein Park en miniature, mit englisch getrimmtem Rasen, Blumenrabatten und einem gewaltigen Mahagonibaum als Mittelachse, der das Dach von Sutherland House weit überragte.
    Im Schatten dieses riesenhaften Baumes ließ sich Helen nieder, auf dem Rasen sitzend, den Rücken an den glatten Stamm gelehnt. Das Wasser des Springbrunnens plätscherte, und hin und wieder trieb der Wind einen Schwall kühler, mit Gischt gesättigter Luft zu ihr her. Lange Zeit saß sie dort reglos, hinter dem Baumstamm verborgen, bald schon eingeschläfert durch die Witterung und die Stimmen der Dienstmädchen, die wie aus traumhafter Ferne zu ihr drangen.
    Als sie wieder zu sich kam, war es bereits finster. Die Abende in Fort George brachen früh und rasch herein, gegen halb sechs wurde es dämmrig, um sechs Uhr herrschte schon nächtliche Dunkelheit. Wie lange sie hinter dem Mahagonibaum geschlummert hatte, ob eine Stunde oder drei, hätte sie in diesem Moment nicht zu sagen gewußt. Jedoch verspürte sie Hunger und wollte sich eben aufrappeln, um von Mama Doro einen abendlichen Imbiß zu erbitten, als sie auf einmal zwei Stimmen hörte, eine wohlbekannte Männerstimme und ein helleres, zwitscherndes Organ.
    »Was deine Mutter da verlangt, kann ich unmöglich erfüllen«, sagte Mr. Sutherland. Seine Stimme klang zischend, er schien erregt, mehr aber noch besorgt, daß seine Worte an unbefugte Ohren dringen könnten.
    Helen wagte kaum zu atmen, weniger aus Angst vor Entdeckung als aus Sorge, daß ihr eine Silbe des geheimnisvollen Wortwechsels entgehen könnte.
    »Sie haben die Wahl, Mr. Sutherland.« Die zweite Stimme klang melodisch und jung - eine India, dachte Helen, der zwitschernde Stimmklang war unverkennbar, auch wenn die junge Frau nicht Quiché, sondern ein geschmeidiges Englisch sprach. »Wenn Sie weiterhin davon absehen, sie anzuerkennen, bleibt Ihnen immer noch die Möglichkeit, uns mit den gewünschten Informationen zu versorgen.«
    Zu Helens Erstaunen stöhnte Mr. Sutherland daraufhin vernehmlich auf, als ob die Worte der jungen Frau ihm körperliche Pein bereiteten. »Unmäßig und undankbar!« stieß er hervor. »Nach allem, was ich für sie - und für euch - getan habe!«
    Einige Augenblicke lang herrschte

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