Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
Vom Netzwerk:
Dorothy Harmess auf ihrer Bettkante, im dürftigen Schein der Petroleumlampe auf ihrem Nachttisch. Wie eine ungeheure Kokosnuß im Schlafrock sah sie aus, mit der braunen Masse ihres Leibes unter den grauen Haarsträhnen, die ihr wirr bis auf die Schultern hingen. Helen stand drei Schritte links von ihr, am Fenster der schlauchförmigen Kammer, in größtmöglicher Entfernung. Ihr Herz klopfte so schnell und hart, daß es sie in der Brust schmerzte. Ich werde nicht weinen, beschwor sie sich, nicht schreien, nicht die Beherrschung verlieren. Nicht, nicht, nicht!
    »Sag doch was«, murmelte Dorothy. »Mr. Sutherland wollt' es so. Was hätt' ich denn machen sollen?«
    Helen brachte kein Wort heraus. Der Papierfetzen lag auf dem zerwühlten Bett neben Dorothys Hand und dem durchnäßten Taschentuch, das sie in kurzen Abständen an ihre Augen führte. Dorothy hatte sich den Brief vorlesen lassen und war in Tränen ausgebrochen, noch ehe Helen mit den wenigen Zeilen fertig war.
    »Vor seiner Laufbahn in White House«, sagte Dorothy schleppend, »war unser Herr 'n königlicher Offizier. Das war in den wilden Fuffzigern, Kindchen, das kann man sich heut' kaum mehr vorstellen: Alle paar Tage brachen irgendwo in der Kolonie Aufstände aus. Alle Nase lang Rebellionen, Schießereien, Überfälle auf weiße Siedler. Und dein... dein... also Mr. Sutherland, Helen-Kindchen, wurde mit 'nem Trupp Soldaten an die Westgrenze geschickt, drei Tagesritte tief in den Urwald, um die Anführer der dortigen Rebellen zu jagen.«
    Wieder tastete Dorothy Harmess nach ihrem Taschentuch, bekam den Brieffetzen zu fassen und tupfte sich raschelnd über die Augen. »Die Indiofrau«, fuhr sie fort, »konnte nur 'n paar Brocken Englisch, aber genug, um klarzumachen, warum 'se gekommen war. ›Dein Tochter‹, sagt sie zu unserm Herrn, ›du füttern, kümmern‹, und drückt ihm das Bündel in den Arm. ›In Dorf alles tot‹, sagt sie weiter, ›dein Frau Ixpaloc auch.‹ - Damals warste zwei Jahre alt, Kindchen, aber dürr und schwach wie 'n kleines Gespenst. Ich hatt' der Frau die Tür aufgemacht und sowieso alles mitangehört. Kaum war sie gegangen, das größere Gör wie vorher an der Hand, als unser gnädiger Herr sich an mich wandte. Ich werd's nie vergessen, Helen, niemals im Leben: ›Hier, Dorothy, nimm‹, sagt er zu mir und reicht mir das Bündel mit dem Baby. ›Sorge für sie, als ob es deine eigene Tochter wäre‹, sagt der gnädige Herr. ›Es soll ihr an nichts fehlen - euch beiden nicht. Aber die Wahrheit darf sie niemals erfahren - sie nicht und niemand sonst.‹«
    Wieder verfiel sie in Schweigen, und Helen, die mit dem Rücken zum weit geöffneten Fenster stand, sah Dorothy Harmess an, ihren gesenkten Kopf mit dem grauen Scheitel, und spürte auf einmal, wie Übelkeit sie befiel.
    »Das Dorf«, sagte sie, »wie hieß es?«
    Dorothy schaute auf, mit einem halben Lächeln der Erleichterung, da Helen endlich wieder mit ihr sprach. »Werd' ich nie vergessen, sag' ich doch, Kindchen, kein einziges Wort von allem, was damals geredet worden ist. Den zwitscherigen Indianernamen könnt' ich mir natürlich nicht merken, aber Mr. Sutherland hat mir nachher erklärt, was das Kauderwelsch bedeuten soll.«
    Helen zwang sich gleichmäßig ein-und auszuatmen. Ihr Herz klopfte jetzt so rasend, daß ihr das Blut in den Ohren rauschte.
    »›Rote Häsin‹ hieß es«, brabbelte Mrs. Harmess weiter,
    »komischer Name für 'n Buschdorf, wie? Irgendwer hat die ganze Siedlung massakriert, zwei Jahre, nachdem unser gnädiger Herr nach Fort George zurückgekommen ist. 'n wahres Wunder, ham damals alle gesagt, daß es Mr. Sutherland überhaupt noch mal aus 'in Wald rausgeschafft hat, nach seiner schweren Verletzung und nachdem sogar der Gouverneur schon geglaubt hat, daß er tot wär'. Und genauso 'n großes Wunder war's dann, daß alle in diesem Hasen-Dorf umgekommen sind - nur du nich', Helen-Kindchen, und die Frau mit dem Gör, die dich hergebracht hat.«
    Helen schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich umzudrehen. Ein galliger Schwall schoß aus ihrem Mund und ergoß sich auf die Dachschindeln von Sutherland House, als wäre soeben der Geist des Hausherrn aus ihrem Leib gefahren. »Henry! So heißt der Kerl doch, oder?«
    Benommen sah Helen um sich. Sie glaubte den scharfen Geschmack der Galle noch auf der Zunge zu spüren, nur mühsam fand sie in die Gegenwart zurück.
    »Zum Donner, willst du wohl endlich mit anpacken, du Halbaffe von einem

Weitere Kostenlose Bücher