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Im Tempel des Regengottes

Im Tempel des Regengottes

Titel: Im Tempel des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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einem Felsbrocken mitten im Strom stand reglos ein Blaureiher. Nebelschleier wallten über Wasser und Bäumen eine Stimmung, durchfuhr es Helen, wie zum Anbeginn der Welt.
    Aber Stimmung hin oder her, sie fröstelte. In den ersten Morgenstunden wurde es offenbar selbst hier im Tropenwald empfindlich kühl. Helen stand auf und streckte sich. Noch immer fühlte sich ihre Burschenkleidung, das weite Hemd, die anliegenden Hosen, fremd auf ihrer Haut an, und wenn sie tief einatmete, drohte ihr das Tuch, das sie straff um ihren Busen gewickelt hatte, die Luft abzuschnüren. In ihrem müdigkeitstrunkenen Geist vermengte sich der Schrei, der sie eben hatte auffahren lassen, mit dem angstvollen Ruf, den Mama Doro in jener Nacht ausgestoßen hatte, als sie wie ein Geist an ihrem Bett erschienen war. Sollte sie sich diesen Schrei nur eingebildet haben?
    Sie wandte sich um. Auf dem Baumwollpacken lag Mr. Thompson, der bleiche Oberkörper bis auf das Unterhemd entblößt, die langen Gliedmaßen zu einer Schnecke zusammengerollt, und sein leise pfeifender Atem verriet, daß er noch immer schlief. Sie betrachtete ihn mit einem Lächeln und stellte sich eben vor, wie sie mit ihrer Hand über Robert Thompsons stoppelbärtige Wange streichen würde, als abermals jener Schrei erklang.
    Die goldhaarige Frau mit der Nonnenkutte - drei Schritte rechter Hand stand sie auf einem flachen Erdhügel inmitten der Strömung, die fromme Tracht bis über die Knie emporgerafft. Ihre katzengrünen Augen hatte sie weit aufgerissen, wenn auch nicht annähernd so weit wie ihren Mund, aus dem eine Kaskade keckernder Schreie hervorsprang. Im Wasser vor dem Erdhügel, einen halben Schritt unterhalb ihrer bloßen Füße, schwamm ein schuppiges, borkiges Etwas, das man für einen vermodernden Baumstamm hätte halten können, wären da nicht zwei Augen gewesen, die wie Gallertkugeln auf der Oberfläche trieben.
    Miriam schrie und schrie, während der Alligator sich damit begnügte, aus seiner schlammbraunen Unterwelt emporzuglotzen. Endlich kamen auch die Männer zu sich, als erstes Mabo, dann Climpsey, Mortimer und zuletzt Mr. Thompson, der sich auf seiner Lagerstatt aufrichtete und verständnislos um sich sah. Während Helen verschiedene Vergleiche zwischen Miriam und dem Blaureiher anstellte, die allesamt zugunsten des Vogels ausfielen, hatte Mr. Mortimer bereits seine Flößerstange ergriffen, mit deren schlammigem Ende er nach der Panzerechse stieß. Nur Augenblicke darauf hatte er Miriam an Bord gehoben und ihr Schiff flott gemacht, das schon wieder stromabwärts schlingerte, während Mr. Thompson, seiner Miene nach zu schließen, noch immer rätselte, wie er in diese haarsträubende Lage geraten war.
    Einer nach dem anderen sanken die Reisenden auf ihre Lager und in den Schlummer zurück, abgesehen von Mr. Mortimer, der seinen Posten am Bug wieder eingenommen hatte, und Miss Miriam Goldhaar. Die falsche Nonne (wenn ich für irgend etwas ein Gespür habe, dann für Falschheit, sagte sich Helen) stand seitlich neben Stephen Mortimer, die Arme unter der üppigen Brust verschränkt, und redete auf ihn ein. Was sie sprach, war nicht zu verstehen, aber ihre Miene verriet, daß sie ihren Gefährten mit Vorwürfen überschüttete. Nun, die schöne Miriam war für die Gefahren und Unbequemlichkeiten einer solchen Expedition sicher nicht geschaffen, sagte sich Helen, ohne sich allerdings verhehlen zu können, daß auch ihr selbst die Wildnis voll lauernder Widrigkeiten keineswegs geheuer war.
    Aber sie wußte schließlich, wofür sie dies alles auf sich nahm: um endlich die Wahrheit herauszufinden, die Wahrheit über ihre Herkunft, nachdem Dorothy Harmess und Mr. James Sutherland sie zwanzig Jahre lang mit Lügen ummauert hatten.
    Unter diesen Gedanken ließ sich Helen wieder auf ihrem Platz zu Füßen von Mr. Thompson nieder. Das Floß schaukelte auf den Wellen, und vor ihr zog die undurchdringliche grüne Wand des Dschungels vorüber, aber Helen nahm dies alles kaum mit Bewußtsein wahr.

8
     
     
    »Ich hab' immer geahnt, Kindchen, daß eines Tages alles herauskommen würd'. Es stimmt schon, daß Mr. Sutherland damals dich und mich aufgenommen hat, aber nich' uns beide zusammen. Drei Jahre lang hatt' ich dem gnädigen Herrn schon hier in Sutherland House gedient, als eines Abends dies dunkle Weibsstück vor der Tür stand, an der Hand ein vier-oder fünfjähriges Indiogör, im andern Arm ein wimmerndes Bündel, Kindchen: dich.«
    Zusammengesunken hockte

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