Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
sie verspürt, wenn man sich mit einer schmerzhaften unausweichlichen Wahrheit abgefunden hat. Wenn übertriebene Hoffnungen und vergebliche Anstrengungen endeten und sich nur als Verschwendung von geistigen und seelischen Kräften erwiesen hatten. Alle Sehnsüchte und alles Verlangen und alle Ängste waren verbraucht. Schon sehr bald würde alles ganz einfach zu Ende sein.
Ihm war genau das widerfahren, was auch anderen passierte. Vielleicht war das hier eine Nummer zu wahnsinnig und irrwitzig, aber dennoch war es seine ganz persönliche Tragödie,
die ihn nun hinwegfegte, sein ganz eigenes Schicksal. Was anderen auf ganz normale Weise widerfuhr, das geschah ihm zufällig auf besonders extreme Weise hier draußen. Das war der einzige Unterschied zu dem Versagen, das ihn schon in der anderen Welt zum Scheitern verurteilt hatte. Aber das hatte er ja alles längst hinter sich. Das Ende hätte ihn auch an einem beliebigen anderen Ort ereilen können, hier war es einfach nur zerstörerischer und brutaler. Das Opfer einer Gewalttat konnte man überall auf der Welt werden, auch dort, wo er früher gelebt hatte. Selbstaufgabe und fehlender Ehrgeiz, die Schadenfreude über den Niedergang anderer – all das hatte es auch zu Hause gegeben. Hier war es nur besonders ausgeprägt. Aber an sich war es nichts Besonderes. Es lag den Menschen im Blut. Lass ein paar Naturkatastrophen stattfinden, lass die falschen Leute an die Macht kommen, lass einen Krieg außer Kontrolle geraten, die Atomkatastrophe ausbrechen oder die Erde auf sonst eine Art vergiftet und unbewohnbar werden, Hungersnöte kommen … und schon beginnt wieder das große Schädeleinschlagen. Immer wieder. Ragnarök . Genau das war das Chaos, das Loki anstrebte. Je früher, desto besser, am liebsten gleich hier, auch wenn das bedeutete, dass es mit seiner eigenen kläglichen, irregeleiteten und obsessiven Existenz anfing.
Wirklich verrückt, dass er sich immer wegen seiner Außenseiterrolle als etwas Besonderes gefühlt hatte, dass er sich immer als Freund der Unangepassten und Gescheiterten gesehen hatte. Er war wirklich der Allerletzte, den man fertigmachen musste. Aber solche Verlierertypen wollten ganz einfach nur den Platz tauschen mit jenen, die in der Hierarchie über ihnen standen. Und das machte die ganze Geschichte nur noch hoffnungsloser.
»Scheiß drauf.«
Seine eigene Schwäche, seine Fehler und seine Unzulänglichkeiten schienen kaum der Rede wert im Vergleich zu denen dieser jungen Leute hier. Er konnte ja noch nicht mal richtig
böse sein. Aber diese Typen hatten es geschafft. Am liebsten hätte er laut aufgelacht, doch gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass er womöglich gerade dabei war, den Verstand zu verlieren. Endlich. Das wurde aber auch Zeit. Wofür war der überhaupt gut gewesen?
Vielleicht hatte ihn einfach nur ein schlechtes Karma hierhergeführt. Damit ihm die Wahrheit beigebracht werden konnte, auf die harte Tour. Er grinste vor sich hin und bleckte dabei seine blutverschmierten Zähne.
»Ich wollte doch bloß mal ausspannen. Ein paar Tage. Mit alten Freunden eine lockere Zeit verbringen. Sonst nichts«, sprach Luke mit lauter Stimme zu seinem Gott und zu den Gestalten dort oben auf dem Dachboden, einfach zu allen, die ihm jetzt vielleicht zuhörten. Er wollte endlich frei werden von dieser Welt, mit der er sowieso nicht klarkam: von seinem Job, seiner schäbigen Wohnung, den Enttäuschungen, die er tagtäglich erlitt, dem Älterwerden und dem Sich-an-alles-gewöhnen. Er hatte sich eine große Veränderung gewünscht, und die hatte er nun bekommen.
Er lächelte und dann musste er kichern. Blutige Blasen bildeten sich auf seinen Lippen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, verrückt geworden zu sein, wild und frei von der Last seines eigenen Selbst.
Draußen war der Klang schwerer Stiefelschritte zu hören. Loki. Scheiß drauf. Der würde ihn jetzt noch nicht umbringen. Er hatte noch ein bisschen Zeit, um Ordnung in seinem Kopf zu schaffen, bevor das Ende kam. Er begann, sich für sich selbst zu interessieren. Und mit einem Mal war er mit sich im Reinen.
Die Tür ging auf. Loki kam herein. Er schwitzte heftig, seine Schminke verlief auf seinem Gesicht und tropfte auf seinen Bart und sein Satyricon-T-Shirt. Seine Hände waren rot.
»He, Loki. Dein Make-up ist verschmiert, Alter.«
Hinter dem hünenhaften Jungen trat die alte Frau ins Zimmer. Sie hielt ein Tablett in der Hand. Darauf standen ein neuer Holzkrug und ein hölzerner
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