Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
er verloren hatte, denn das würde es für ihn nur noch schlimmer machen.
Dies hier war echte Wildnis, hier gingen ständig Menschen verloren. Sie starben zu Ehren von Kräften, die lange Zeit hier geschlafen hatten, scheinbar für immer zur Ruhe gekommen waren. Aber nun waren diese Mächte wieder an die Oberfläche getreten, denn ihr ewiger Schlaf war durch uralte Rituale und neu erbrachte Blutopfer gestört worden. Sie hatten dieses Ding aufgeweckt. Und es hatte seine Freunde abgeschlachtet und sich an der wilden Jagd erfreut. Aber jetzt forderte es seinen Tribut, es wollte etwas geopfert bekommen, etwas, das noch lebte und sich in Todesangst wand, während es ihm gefesselt dargeboten wurde. Einst wurde es gefüttert von der mumifizierten Gemeinschaft, die oben auf dem Dachboden versammelt war, und nun wollte es erneut verehrt und beschenkt werden. So wie alle Götter es verlangten.
Luke schnappte nach Luft. Er wurde von Panik erfasst, kalter Schweiß brach ihm aus. Er fror. Die alte Frau gab beruhigende Laute von sich. Sie umarmte ihn, drückte ihn an sich. Er war ihr kleines Lämmchen.
»Wir müssen es ja niemandem sagen«, flüsterte er ihr zu.
Sie lächelte. Er lächelte mit bittenden Augen zurück. Sogar wenn sie ihn mit diesem schmierigen alten Kissen ersticken würde, wäre es eine Gnade im Vergleich zu dem, was bald aus dem Urwald kam, um ihn zu holen. »Bitte, mach ein Ende.«
Die alte Frau ließ sich nicht beirren. Sie war Teil einer unendlich langen Tradition. Sie war schon immer hier gewesen. Sie hatte sich um das gekümmert, was gegeben und genommen werden musste, um das, was in diesem steinalten düsteren Wald seit Urzeiten existierte.
»O Gott, bitte nicht, bitte nicht.«
Er dachte an die bräunlichen Knochen in der Krypta der verfallenen Kapelle und wusste: Es gab kein Entkommen. Irgendein
Kuhhandel war nicht möglich. Die Tatsache, dass dieser Wald schon so unglaublich alt war, sich so unendlich weit erstreckte und ihm gegenüber völlig mitleidlos war, wirkte erdrückend und vernichtend auf ihn, wie er so hilflos dalag in seinem kleinen Bett. Wenn er doch nur auf der Stelle vergehen könnte, schon allein, damit er sich das ganze Ausmaß des Grauens nicht ständig vor Augen führen musste.
»Bitte, ich möchte jetzt sterben.«
Dieses Ding war so etwas Ähnliches wie eine seltene Pflanze oder ein fast ausgestorbenes Tier, das niemand je erforscht oder gefunden hatte. Es war nur denen bekannt, die es verstanden.
»Du bist ihnen doch völlig egal. Sie benutzen dich nur.« Er schaute in ihre kleinen schwarzen Augen. »Und sie werden auch dich vernichten. Das weißt du doch, nicht wahr?«
Die Mitglieder von »Blood Frenzy« waren nichts weiter als dumme Barbaren. Sie waren ungeduldig, rücksichtslos und wütend. Außenseiter, die Gott ins Gesicht spucken wollten, die alles ablehnten, die Regierung, die Gesellschaft, die Moral und alles andere, das sie an den Rand gedrängt oder ausgeschlossen hatte oder sie einfach nur langweilte. Sie waren hier genauso unwillkommen wie er. Die alte Frau hatte keine Angst vor ihnen. Sie tolerierte sie hier nur, da war er sich ziemlich sicher. Diese Einsicht nährte die irrwitzige Hoffnung, dass es ihr und ihm gemeinsam vielleicht gelingen könnte, diese jungen Leute ihrem natürlichen und selbstzerstörerischen Schicksal zuzuführen. »Lass uns Schluss machen mit ihnen. Wir beide. Ich schwöre, ich verspreche hoch und heilig, dass ich keiner Menschenseele etwas von dir und deiner… Familie erzählen werde.« Er sah sie an und deutete dann mit dem Kopf zur Decke.
Sie versuchte, ihn zu beruhigen, und strich ihm besänftigend über den Kopf.
Luke sprach weiter leise auf sie ein: Trotz des unglaublichen Alters dieser Kreatur, die hier oben in der nordischen Wildnis
auf fantastische Weise überlebt hatte, wo nur der Mond und die Sonne und die wenigen, die es im Augenblick des Todes erblickt hatten, Zeugen seiner jahrtausendealten Existenz waren, würde nichts von dem geschehen, was Loki sich erträumte. Weder das Ende aller Tage würde kommen, noch ein neues Zeitalter anbrechen. Auch wenn sie dieses Ding als einen Gott ansahen, war es kein besonders einflussreicher Gott. Und das bedeutete, dass sein Opfertod völlig sinnlos wäre.
Aber das war sein Leben womöglich ohnehin. Obwohl es besonders wehtat sich vorzustellen, dass er nur das Opfer der unausgegorenen Fantasien einer Bande asozialer Jugendlicher sein würde.
Und dann starrte er wieder hinauf zur Decke
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