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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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nicht sagen wieso, aber er empfand große Sympathie für sie. Und dann spürte er, wie auch ihm Tränen über das Gesicht liefen.
    Der Wind rüttelte an dem kleinen Fenster, und die Wolken dämpften das blasse Sonnenlicht. Um ihn herum wurde es dunkler, und auch seine Gedanken wurden immer düsterer. Nun beweinte er sich selbst und seine Freunde, und sein Herz quoll über vor dieser tiefen Traurigkeit, die die ganze Welt durchdrang und alle, die in ihr lebten.
    Zwischendurch kam er in seinem engen stinkenden Bett wieder zu sich und fragte sich, ob es wirklich Menschen gab, die von den großen Tragödien und Schmerzen ausgenommen waren oder ob auch sie früher oder später von ihrem Schicksal eingeholt würden. Wenn man die Welt als Ganzes betrachtete, die Ewigkeit des Seins, dann waren solche Ausnahmen, wenn es sie überhaupt gab, nichts weiter als Anomalien im unbarmherzigen Fluss der Verzweiflung und der Agonie, der Traurigkeit und des Schreckens, die früher oder später jeden erfassen und fortspülen mussten.
    Und zum ersten Mal seit seiner Schulzeit begann Luke zu beten. Die Ungeheuerlichkeit dessen, was hier passierte, brachte ihn unweigerlich dazu, in religiösen Kategorien zu denken. Auf einmal ergaben solche großen Worte wie »Gott« und »Teufel«
wieder einen Sinn, ebenso wie die scheinbar abgegriffenen Begriffe von Mystik und Magie. Das Unbegreifliche, das hier in der Vergangenheit geschehen war und solche schrecklichen Dinge hinterlassen hatte, musste in Worte gefasst werden. Es tat ihm gut zu beten und zu weinen, den bitteren Tränen freien Lauf zu lassen. Auf diese Weise konnte er das Gefühl unendlicher Trauer und Verzweiflung bewältigen.
    Draußen unter seinem Fenster dröhnte Musik aus einem CD-Player, und nun konnte er die alte Frau über sich nicht mehr hören. Fenris und Loki grölten das Heavy-Metal-Stück laut mit. Sie tranken wieder ihren selbstgebrannten Schnaps, das konnte er an den dämlichen kichernden Lauten erkennen, die sie ab und zu von sich gaben. Und so ging das alles einfach weiter. Es war schon beinahe langweilig, weil es so vorhersehbar war. Das Böse, so entschied er, war unvermeidlich, unbarmherzig und vorhersehbar. Vielleicht auch eine große Inszenierung, so viel wollte er ihnen noch zugestehen, aber vor allem seelenlos.
    Er strich mit dem Handrücken ganz vorsichtig über seine Nase. Es war hoffnungslos, er konnte sich nicht mal die Nase putzen. Blutiger Rotz lief heraus. Er ließ seinen Kopf auf das graue Kopfkissen zurückfallen und schloss das eine Auge, das ihm noch geblieben war, nachdem das andere zugeschwollen war. Ganz ruhig lag er auf dem stinkenden Schaffell, ohne ein Geräusch zu machen und wartete darauf, dass das Tageslicht allmählich verblasste und der Himmel dunkel wurde. Um es endlich hinter sich zu bringen.
    Und während dieser endlos langen Stunden war er allein mit seinen Gedanken und quälte sich damit, immer wieder seinen Fluchtversuch zu rekapitulieren. In dem Moment, als er Fenris mit dem Krug außer Gefecht gesetzt hatte, hätte er auch Surtr erledigen müssen. Dann hätte sie ihn nicht an den Haaren ziehen und seine Kopfwunde aufreißen können. Er hätte schneller und härter mit ihr umspringen müssen. Er stellte sich vor, wie er
den Kampf erneut aufnahm und diesmal siegreich daraus hervorging. Wie er die Treppe hinunterstürzte und eins der Messer in die Finger bekam oder sogar das Gewehr.
    Vielleicht hätte er in dem Moment, als sie ihm die Leiche des armen Dom zeigten, einfach in den Wald rennen sollen. Er hätte nicht den Pfad neben dem Obstgarten nehmen dürfen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wenn er in den Wald gerannt wäre, hätte er sich irgendwo verstecken und später wegschleichen können. Aber diese Möglichkeit war ihm nun auch genommen worden. Stattdessen war er eingeschlafen, hatte von seinem eigenen Tod geträumt, und nun war er an Hand- und Fußgelenken gefesselt. Diese ganze Situation wirkte wie der Teil eines schrecklichen schicksalhaften Plans, als hätte die Vorsehung ihn hierhergelockt, um ihn zu opfern. Genau so, wie Loki es gesagt hatte.
    »Leck mich doch«, murmelte er vor sich hin.
    Aber selbst wenn es ihm gelungen wäre zu flüchten, wenn er es geschafft hätte, dieses grässliche Haus hinter sich zu lassen – was dann?
    Er fluchte und schimpfte auf sich selbst. Schluchzte auf. Zuckte zusammen.
    So sah das jetzt also aus. Der Gedanke lastete schwer auf ihm, brachte aber auch eine Erleichterung mit sich, wie man

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