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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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sich dort versammelt, um fröhlich herumzutollen. Er blinzelt einmal, und schon sind sie verschwunden.
    Er dreht sich um und sieht die alte Frau auf sich zukommen. Ihre kleinen Füße machen keine lauten Geräusche mehr, weil sie Tücher darum geschlungen hat. Sie bietet ihm ein Messer an. Ein langes dünnes Messer, das er schon einmal gesehen hat.
    Die Messerspitze scheint etwas in ihm zu öffnen, das ihm für immer verbietet, etwas anderes zu empfinden als Wut oder sich an etwas anderes zu erinnern als diese Augenblicke blinden ekstatischen Hasses. Von nun an will er nur noch instinktiv denken, so wie die Lebewesen des Waldes, die nur darauf aus sind, ihr Leben zu retten und ihren geschickten Verfolgern zu entgehen.
    Die Alten über ihm huschen auf flinken Füßen über den Dachboden. Sie tanzen auf den alten Holzbohlen und wollen Blut.
    Er sieht hinab auf die kleine alte Frau, aber sie ist gar nicht mehr da. Das Haus um ihn herum knackt wie alte knochige Finger, die sich zur Faust ballen. Und er steht da auf dem staubigen rohen Holzboden und hält das Messer fest.

    Als die Sonne hinter den dünnen Wolken zum Vorschein kommt, wacht Luke auf.
    Wieder.
    Setzt sich auf und schnappt nach Luft. Aber dieses Mal ist die Luft kälter und beißender auf seiner nackten Haut. Und er weiß, jetzt ist er wirklich erwacht.
    Luke verlagert sein Gewicht auf dem Bett, um die Schmerzen in seinen Knöcheln zu lindern. Er reibt sich über die wunden Handgelenke. Streckt die Füße. Die Träume verschwinden.
    Sein Herz macht einen jähen Sprung.
    Er ist nicht mehr gefesselt.
    Erstarrt, stumm und völlig konzentriert sitzt er da, als ihm klar wird, was das bedeutet. Er starrt auf die Bettdecke, die zum Fußteil des Bettes geschoben wurde. Auf dem schmuddeligen Ziegenfell zwischen seinen Knien liegt ein rotes Schweizer Armeemesser. Die große Klinge ist aufgeklappt. Es ist sein Messer.
    Jemand hat das blutgetränkte Gewand über den Rand des Kastenbetts gelegt und darauf die kleine welke Blumenkrone.

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    Luke hockte sich nackt auf den Boden seines Zimmers und sah zur Tür. Es war noch früh. Draußen schien die Sonne hell und stählern, wenn sie kurz einen Weg durch die Lücken zwischen den Wolken fand. Der Regen hatte aufgehört.
    Er versuchte, den wilden Strom seiner Gedanken in ruhigere Bahnen zu lenken. Das Durcheinander in seinem Kopf beschäftigte ihn so sehr, dass er seinen Vorteil beinahe verspielt hätte, bevor er sich über seine veränderte Lage überhaupt richtig im Klaren war. Statt zu handeln, bemühte er sich, seine Position zu bestimmen, in einer Welt, in der es nur Konfusion und Terror und Verwirrung gab, in der das Unmögliche wahr wurde.
    Die alte Frau. Sie war im Traum zu ihm gekommen, als er auf seinem schmutzigen Lager geschlafen hatte, verschnürt wie ein Opferlamm. Aber nun war er frei und besaß ein Messer. Also war sie wirklich in der Nacht zu ihm gekommen, hatte seine Fesseln durchgeschnitten und ihm das Messer hingelegt?
    Er grinste breit.
    Gestern Abend waren sie übel mit der alten Frau umgesprungen, als sie sich geweigert hatte, das Ding aus dem Wald zu rufen. Sie hatte Loki nicht gehorcht. Sie hatte sich geweigert den Dämon herzubitten, den Gott, der ihn holen sollte, als er am Kreuz hing. Und nun wollte sie, dass er flüchtete oder die drei jungen
Leute erledigte, die sich in ihrem Haus eingenistet hatten. Was ihr lieber wäre, war ihm nicht klar, aber er hatte für beides gute Gründe.
    Die unglaubliche Vorstellung, noch länger als nur ein paar Stunden leben zu dürfen, nahm ihm den Atem. Ihm schwindelte, er konnte sich kaum noch aufrecht halten und musste sich auf dem Holzboden abstützen.
    Seine Lage hatte sich entscheidend verändert. Es fühlte sich an, als lieferte elektrischer Strom direkt unter seiner Haut frische Energie. Seine Augen blinzelten, seine Muskeln zuckten nervös. Er fühlte sich leicht wie Helium und zappelig wie ein Hase.
    Er war sich nicht sicher, ob er jemals so empfunden hatte: nackt und schmutzig und verwundet war er auf eine Existenz zurückgeworfen worden, in der nur der Augenblick zählte. Ihm wurde klar, dass er eigentlich schon lange aufgegeben hatte. Ratlos, antriebslos und ziellos hatte er sich treiben lassen. Sein altes Ich war dünn und ungreifbar geworden. Seine alte Welt grau. In manchen kritischen Momenten hatte er gezögert, hatte sich von Selbstzweifeln übermannen lassen. Er war ermattet und demoralisiert gewesen. Sehr lange war das schon so gegangen. Jetzt

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