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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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begannen zu frieren. Und der Wald schwieg. So wie die alte Frau. Alles war ruhig und alt und gleichgültig.
    Obwohl der Wald nicht leer war. Lukes Augen wurden durch den Druck in seinem Kopf aus den Höhlen gedrückt, sein Blick verdunkelte sich, er konnte kaum noch etwas erkennen. Aber er sah ihre Gesichter. Blasse Gesichter und rosa Augen im flackernden Schein des erlöschenden Feuers. Kleine weiße Gestalten, die ihn anschauten. Sie musterten ihn, und dann zogen sie sich zurück.

63
    Der Mond ist voll, und der Wald draußen vor seinem Fenster hat sich verändert. Er ist größer als jemals zuvor, er bedeckt das ganze Land bis zur Küste des eisigen Nordmeers. Er scheint zu leuchten. Er ist majestätisch. Er ist zeitlos. Er ist ewig. Angesichts dieser Unendlichkeit fühlt er sich kleiner als jemals zuvor.
    Die Stimmen aus dem Raum über ihm sind wieder zu hören. Er kann jetzt verstehen, was sie flüstern.
    »Schau nur, schau«, rufen sie ihm zu. »Schau nach unten.«
    Auf der Wiese unter dem weiten, von dem riesigen Mond beherrschten Himmel, sieht er eine Gestalt in Weiß, die festgeschnürt in einem Karren sitzt, der beladen ist mit blutbesudeltem Geflügel. Sie wird hin und her geworfen wie eine Puppe, aber vielleicht versucht sie ja auch sich loszureißen.
    Dem Karren folgt eine zerlumpte Prozession. Dort, wo das silbrig glänzende Licht die Dunkelheit verdrängt, sieht er gebeugte, voranschreitende oder auch hüpfende Gestalten in Kleidern, die aus grauer Vorzeit stammen. Sie tänzeln und springen neben dem Karren her und bewegen sich auf einen Ort zu, der so alt ist, dass sogar die Alten oben auf dem Dachboden sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht ist es der letzte der alten Orte überhaupt.
    Wird er, wenn die Zeit reif ist, mit ihnen in den Himmel
schreien, fragen sie. Wird er einstimmen und die alten Namen rufen? Als er die Worte hört, die er aussprechen soll, stockt ihm der Atem.
    Dann wird die Gestalt auf dem Wagen, die eine Krone aus welken Frühlingsblumen auf dem Kopf trägt, dort heruntergeholt. Und plötzlich verwandelt er sich in diese Person, und jetzt steht er zwischen den Steinen. Auf dem höchsten dieser Blöcke, die um ihn herum aufragen, sitzen seine Freunde und grinsen ihn schweigend aus toten Gesichtern an. Nackt und abgenagt bis auf ihre blutverkrusteten Knochen sind sie auf den Steinen festgezurrt, in die längst vergessene Verse eingeritzt sind. Nun wird er selbst auch auf einen Stein gehoben und sitzt zwischen seinen Freunden, und das, was einst gegeben wurde, wird wieder gegeben werden.
    Zwischen den Bäumen stehen kleine, nur undeutlich wahrnehmbare Gestalten. Sie reden und machen Geräusche, die ihn an Lachen erinnern. Ihre flüsternden Stimmen schicken Laute herauf, die ihm die Augen und Ohren verstopfen wie zahllose schwirrende Fliegen.
    Er sieht einen anderen Ort. Der Geruch von Talg und Rauch dringt in seine Nase, vermischt sich mit dem Gestank des schmutzigen Heus. Er steht jetzt in einem dunklen Stall, vielleicht ist es auch eine schlichte Kirche, erbaut aus alten Baumstämmen, über die der rötliche Schein eines Feuers flackert.
    Dort irgendwo in der Dunkelheit stöhnt eine gebärende Frau. Er kann nicht verhindern, dass seine Beine dorthin gehen, wo sie liegt, obwohl eine Stimme in seinem Kopf ihn laut zum Fortlaufen auffordert.
    Zu ihren Schreien gesellen sich die Geräusche eines Neugeborenen. Und er steht inmitten einer Gruppe von kleinen Wesen vor der schattigen, mit Stroh gefüllten Krippe. Und darin liegt ein Ding, feucht und quäkend, das er nicht richtig erkennen kann. Es ist gleichzeitig menschlich und von ganz anderer
Herkunft, das sieht er sofort an den Hufen, die aus den blassen Beinchen herausragen. Es wurde aus dem dampfenden verwüsteten Leib der sterbenden Mutter geschnitten und wird nun ehrfürchtig von jenen festgehalten, die es für ein Wunder halten.
     
    Mit einem lauten Schrei schreckt Luke aus seinem Traum. Panisch sieht er sich in dem dunklen Zimmer um, ob irgendwo die kleinen Gestalten zu sehen sind, die eben noch so eifrig zu ihm gesprochen haben. Aber ihre Stimmen vergehen, steigen nach oben und verlieren sich auf dem Dachboden.
    Wieder steht er vor dem weiß schimmernden Fenster seines kleinen Zimmers und zittert, weil ihm der Traum von dieser grausigen Geburt noch vor Augen steht. Er schaut hinaus auf den Wald, der phosphoreszierend glänzt. Am Waldrand stehen schmächtige weiße Wesen mit wenigen Haaren auf den Köpfen, als hätten sie

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