Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
verstand er das erst. Diese Einsicht packte ihn jäh und heftig. Sein ganzes Leben war bis zu diesem Augenblick vollkommen lächerlich und absurd gewesen.
Aber jetzt wollte er leben.
Wenn er die nächsten Minuten überlebte, dann würde jeder Augenblick in seinem zukünftigen Leben großartig werden. Jedes gesprochene Wort würde eine besondere Bedeutung haben, jedes Essen und jedes Getränk wäre ein Geschenk. Seine Belohnung war, dass er weiterleben durfte.
Er lächelte vor sich hin. Er würde nicht einfach so aufgeben. Er hatte herausgefunden, was er liebte und wen er nicht länger enttäuschen wollte und wofür es sich zu leben lohnte. Es war ihm endlich klar geworden und wurde mit jedem weiteren Gedanken
immer deutlicher und stärker. Er dachte an seinen Hund zu Hause, an diesen kleinen Kerl, der ihm vertraute, der aus seinen treuen Augen zu ihm aufsah, wenn sie in der winzigen tristen Küche saßen. Ein paar Tränen mischten sich in sein Lächeln.
Er war sich selbst wieder wichtig geworden. Er hatte zugeschaut, wie sein Ende immer näher kam, hatte sich von seiner Angst überwältigen lassen, das war wirklich widerlich gewesen. Dabei hatte er noch immer Arme und Beine, die er bewegen konnte, Sinne, die Signale empfingen, und er hatte Momente erfahren, in denen ihm das Wunder des Lebens deutlich vor Augen gestanden hatte.
Sie hatten doch allen Ernstes geglaubt, sie könnten ihm das Leben rauben.
Sie waren zu dritt. Er erinnerte sich an die Dolche an ihren Gürteln und an das Gewehr. Sie waren noch jung, beinahe Kinder. Wahrscheinlich zu jung, um lebenslang ins Gefängnis zu kommen. War er fähig, sie zu verletzen, wenn es so weit war? Dieser plötzliche idiotische Anflug von Mitleid ließ ihn laut aufstöhnen. Dies war nun wirklich weder der Ort noch der Zeitpunkt für solche Gedanken.
Er stand auf und ging zum Fenster. Er sah hinunter zu dem Kreuz, das dort gestanden hatte. Es lag nun im Gras.
Dies war einfach eine Welt, in der einer über den anderen herrschen wollte. Es waren harte Zeiten. Wenn andere es lange genug versucht hatten, war es ihnen bislang immer gelungen, ihm ihren Willen aufzuzwingen. Aber eine höhere Macht, die auch jene führte, die ihm zugesetzt hatten, hatte ihn hierhergebracht. Und nun war es an der Zeit abzurechnen. Hier an diesem Ort, der von Gescheiterten für Gescheiterte gemacht war, in einer Welt und einer Zeit, in der eigentlich alle irre waren. Wenn er den heutigen Morgen überlebte, das schwor er sich, dann würde er gegen diese kranken Auswüchse kämpfen, wann und wo und in welcher Form sie auch auftraten.
Ein Aufschub war nicht möglich, es ging hier und jetzt um sein nacktes Überleben. Dies war eine Welt, in der jeder nur für sich selbst verantwortlich war. Er hatte diese Welt nicht gemacht, er hatte sich geweigert mitzumachen. Nun war er es leid das Opfer zu spielen. »Opfer«, flüsterte er vor sich hin. »Opfer.« Es auszusprechen war, als tankte er frische Energie. Er hatte sich selbst zum Opfer gemacht. Aber damit war es nun vorbei. Er würde hier sterben, es sei denn, er brachte sie alle um. Er war im Jetzt, und er wusste ganz genau, was das bedeutete.
Er fragte sich, ob er fähig wäre zu töten. Sein Magen rebellierte. Würde er sich selbst noch im Spiegel anschauen können, wenn er es getan hatte? Das hier war kein Horrorfilm. Er musste tatsächlich ein Messer durch die Haut eines menschlichen Wesens stechen, hinein in den festen lebendigen Körper.
Er fing an zu zittern. Vielleicht sollte er einfach nur weglaufen, sich verstecken, laufen, verstecken, hoffen.
Nein. Sie würden ihn jagen und zur Strecke bringen.
Er blickte zur Decke. Zweifellos musste er diesen Ort zerstören, an dem derartige Dinge noch existierten. Er musste tief in sein Innerstes hinabsteigen, an den finsteren Ort, wo jene Lava glühte, die ihn dazu gebracht hatte, den Mann in der U-Bahn anzugreifen oder sich auf den armen Dom zu stürzen. Er musste den Ort finden, wo sich diese zerstörerische Energie sammelte, die ihn dazu brachte, zu brüllen, zu schlagen oder Autofahrer anzupöbeln, die bei Rot über die Ampel fuhren und Fußgänger in Gefahr brachten. Jene Energie, die ihn aufpeitschte, wenn er an die Soziopathen dachte, für die er schon gearbeitet hatte. Diese beinahe schon lächerliche Wut, die ihn zwang, seine Sachen und seine Möbel zu zerstören und sich in der Öffentlichkeit schlecht zu benehmen. Sie brodelte schon lange in ihm, nun war es an der Zeit, sie zum
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