Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual
er wieder das Wort ergriff. »Diese Nationalparks sind dazu da, die letzten Reste ursprünglicher Natur zu erhalten, Dom. Für die Zukunft. Weil sie sonst überall verschwunden sind.«
Luke schaute sich um, als würde er alles zum ersten Mal sehen. Hutch nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Er versuchte, diesem plötzlichen Drang zu widerstehen, ganz einfach auszubrechen und sich Richtung Süden durchzuschlagen. Ein dunkler Schatten, der aus dem Traum der letzten Nacht stammte, tauchte in seinem Kopf auf und erinnerte ihn an etwas, das er mit ganzer Willenskraft unterdrücken musste. Er atmete tief durch. »Dies ist einer der letzten Überreste des Nadelholzgürtels der Taiga. Der erstreckt sich von Norwegen bis Russland und ist nach dem Ende der Eiszeit entstanden. So lange gibt es den schon. Eine norwegische Fichte kann fünfhundert Jahre alt werden. Eine schottische Kiefer sogar sechshundert. Kannst du dir das vorstellen? Im neunzehnten Jahrhundert sind diese Wälder um neunzig Prozent geschrumpft. Wurden alle gerodet und urbar gemacht. Aber einige Teile wurden übrig gelassen, so wie dieser hier, als Nationalparks, damit Pilze und Flechten sich entfalten können und all das Zeug, durch das wir jetzt nicht durchkommen. Um die natürlichen Bewohner zu schützen. Vögel und Insekten. Das Wild. Der ganze Wald ist voll mit seltenen Arten. Die anderen Wälder, die wir aus dem Zug heraus gesehen haben, sind kultiviert. Wahrscheinlich sind sie nicht mehr als hundert Jahre alt. Heutzutage werden Wälder nicht mehr so alt. Man lässt sie nicht.«
Für einen Augenblick war Luke ihm dankbar. Hutch machte sich immer eine Menge Gedanken, bevor er sie irgendwohin mitnahm. Er gab immer alles, wenn es darum ging, eine gemeinsame Unternehmung zu organisieren. Jedes Mal wollte er seinen Freunden etwas Besonderes präsentieren. Nun hatten sie sich
durch sein Verschulden verlaufen – aber selbst in dieser Situation erinnerte er sich daran, dass sie inmitten einer Wildnis herumirrten, die die meisten Menschen, auch die meisten Schweden, niemals zu Gesicht bekamen. Etwas Uraltes und Ursprüngliches. Luke überlegte, ob er Dom daran erinnern sollte, entschied sich dann aber dagegen. Denn auch für ihn war das kein Trost mehr, das musste er sich eingestehen.
»Es ist auf den Bäumen«, ertönte Phils Stimme über die schmale Lichtung vor der kleinen Hütte, der sie noch immer nicht entkommen waren. Es waren jetzt zwanzig Minuten vergangen, seit sie ihre schmuddeligen, rauchigen Klamotten angezogen und die Rucksäcke gepackt hatten. »Es ist ein Kreis. Einmal um das ganze Haus herum.«
Luke, Hutch und Dom drehten sich zu Phil um, der am nördlichen Ende der Lichtung stand. Er befand sich in der Nähe des schmalen Pfads, der in den dunklen Wald hineinführte. Die drei anderen schauten sich mit verkniffenen Mienen an.
»Was ist denn los, alter Junge?«, rief Hutch.
»Auf den alten, auf denen mit den toten Ästen.«
»Wovon redet er überhaupt?«, fragte Dom.
Hutch zuckte mit den Schultern. »Ich glaub, der ist immer noch ziemlich verstört.«
»Meinst du, er ist durchgedreht?«
»Ich glaube, das sind wir alle letzte Nacht. Wenn Luke mich nicht aufgeweckt hätte, würde ich immer noch oben unter dem Dach hocken, vor dieser dämlichen Ziege.«
Luke brach in Lachen aus. Es klang zu schrill in der stillen Luft und angesichts der bedrohlich dichten Bäume um sie herum. Unangebracht, als würde jemand in einer Kirche laut auflachen.
Hutch grinste. »Mein Gott, Jungs. Wie sollen wir denn das den Leuten erzählen, wenn wir nach Hause kommen?«
Dom gab Hutch einen Klaps auf den Hinterkopf und zwang sich zu einem breiten Grinsen. »Da müssen wir erstmal wieder
hinkommen, du verdammter Yorkshire-Bastard! Lass mich bloß mit deinem jungfräulichen Wald und den Eiszeitpilzen in Ruhe. Ich will endlich wieder Beton unter den Füßen spüren.«
Hutch wich dem zweiten Hieb aus und sagte: » Also los. Lass uns mal nachsehen, was der Dicke uns mitteilen will.«
17
»Was ist los, Kumpel?«, fragte Hutch Phil, der nach vorn gebeugt dastand, eine Hand gegen die dunkle Borke eines dicken Baumstamms gelegt. Phil hatte nicht viel gesagt, seit sie ihn geweckt hatten, und er blockte jeden Versuch ab, ihn danach zu fragen, wie er völlig nackt in diesen kleinen Anbau geraten war, den sie alle in der letzten Nacht als Pissoir benutzt hatten, bis auf Luke, der draußen gepinkelt hatte. Luke, Hutch und Dom waren viel zu müde und aufgewühlt,
Weitere Kostenlose Bücher