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Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual

Titel: Im tiefen Wald - Nevill, A: Im tiefen Wald - The Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Nevill
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Augen. Hutch ist von uns gegangen, Hutch ist von uns gegangen , schoss es ihm immer wieder durch den Kopf. Er kam sich vor wie ein Kind. Das dringende Bedürfnis, sie alle anzutreiben, damit sie bald loskamen, verebbte.
    Phil weinte. Doms Gesichtszüge waren völlig entgleist. Ein langer Faden Speichel tropfte von seiner Unterlippe. In seinen Augen standen Tränen. Eine Hand über die Brauen gelegt, als wollte er sich vor der Sonne schützen, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Und mit jedem Schluchzen hob und senkte sich sein Brustkorb. Luke merkte, wie seine verkrampften Gesichtszüge sich lösten. Salzige Rinnsale liefen ihm über Wangen und Hals bis hinunter auf die Brust. Hutchs grinsendes Gesicht tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Beinahe schon hörte
er sein gackerndes Lachen. Der Gedanke, dass er nicht mehr existierte, war so ungeheuerlich, dass ihm schwindelte. Dann schien sich sein Herz zusammenzukrampfen, und gleichzeitig rebellierte sein Magen.
    Luke hockte sich hin, schlug die Hände vor den Mund und stöhnte vor tief empfundenem Schmerz laut auf. In diesem Moment spürte er weder die Wunden an seinen Oberschenkeln noch die blutigen Kratzer auf seinen Wangen und an den Ohren noch den Muskelkater in den Beinen. Er saß da, das Gesicht in den Händen, und hörte, wie die anderen vor sich hin weinten.
    Schließlich stand er abrupt auf und stieß dabei gegen Phil, der ihn packte und seinen Oberarm so heftig drückte, dass Luke schon glaubte, seine langen schmutzigen Fingernägel würden sich durch die Regenjacke und seine Haut hindurch ins Fleisch graben. Er musste Phils Finger einzeln von seinem Arm lösen. Dann fasste er Dom an den Schultern, weil dieser heftig zitterte, sei es vor Trauer oder wegen einer Panikattacke. Eine ganze Weile waren sie alle drei völlig orientierungslos und unfähig, inmitten der Dunkelheit und der nagenden Kälte irgendetwas Sinnvolles zu tun. Sie verloren die Fassung, sie weinten. Bis sie irgendwann nebeneinander auf dem Boden hockten und bibbernd vor sich hinstarrten, während der eiskalte Waldboden die letzten Reste von Wärme aus ihren gemarterten Körpern zog und gierig aufsog.

31
    »Du kannst nicht hierbleiben«, sagte Luke mit sehr ruhiger Stimme zu Dom, der neben seinem Rucksack vor dem zerstörten Zelt saß. »Du kannst heute Morgen einige Stunden lang auf dein Knie vertrauen und einen neuen Anlauf unternehmen, aus diesem Wald zu kommen. Wir gehen Richtung Süden. Wir müssen los, und zwar jetzt. Auf möglichst geradem Weg.«
    Doms Kopf hing praktisch zwischen seinen Knien. Vor lauter Trauer war er mittlerweile völlig erschöpft, und das, bevor sie überhaupt einen Schritt gemacht hatten.
    Luke nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sprach dann durch den bläulichen Schleier des Rauchs, der vor seinem Gesicht aufstieg. »Dein Knie ist hin. Es wird gerade mal bis Mittag halbwegs zu gebrauchen sein. Ich hab mit Hutch darüber gesprochen …« Er hielt inne und musste schlucken. » … gestern Abend. Wir hatten überlegt, ob ihr vielleicht ein oder zwei Tage hier im Wald warten könntet, während ich einen Weg nach draußen suche und Hilfe hole. Er wollte, dass du dein Knie eine Weile schonst. Und dass Phil wieder zu Kräften kommt. Wir haben noch genug Wasser für mehrere Tage, und wir wissen, wo es noch mehr davon gibt, falls es länger als zwei Tage dauert, bis Hilfe kommt. Aber jetzt ist alles anders. Wir können nicht … nicht noch eine Nacht hierbleiben. Das ist absolut unmöglich.«

    »Vergiss es«, war alles, was Dom herausbrachte. Er legte die Ellbogen auf die Knie, hob sein von Trauer und Erschöpfung gezeichnetes schlaffes Gesicht und sah Luke an, als wollte er jede Erinnerung an das Geschehen der letzten Nacht unbedingt vermeiden.
    Luke machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Ich habe mich ein bisschen umgeschaut…« Er war unangenehm berührt und musste sich räuspern. »Er wurde dort entlanggeschleppt. « Luke deutete auf eine etwas lichtere Stelle im Gestrüpp zu seiner Rechten. »Da ist alles niedergetrampelt und überall Blut.«
    »Du darfst uns hier nicht allein lassen. Wir müssen alle zusammenbleiben«, stieß Phil auf einmal heftig hervor. Er stand am Rand der Lichtung und starrte in die feuchte Dunkelheit.
    Luke nickte. »Natürlich nicht. Das versteht sich doch von selbst.«
    Dom warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Aber du weißt doch auch nicht, wo wir eigentlich sind, oder?«
    »Nur so ungefähr.«
    Dom lachte freudlos.

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