Im Totengarten (German Edition)
sich dabei jedes Mal mein Herz zusammenzog. Es war nicht zu leugnen, dass zwei der toten Frauen, eine Prostituierte und eine Sozialarbeiterin, in seinem Bus gewesen waren. Aber was hatte er sonst noch mit ihnen gemacht? Ich versuchte, nicht daran zu denken, dass er tagelang mit einem geradezu erschreckend scharfen Messer in der Tasche rumgelaufen war, doch meine Gedanken überschlugen sich. Vielleicht hatte Will ja irgendwelchen Leuten von den fürchterlichen Zuständen, die er in dem Heim gesehen hatte, erzählt, und vielleicht hatten seine Worte diese Leute ja zu einer Fortsetzung der Mordserie inspiriert.
Zähneknirschend zwang ich mich, weiter darüber nachzudenken, was mit Lola war.
Ich hatte noch immer nichts von ihr gehört, doch aus irgendeinem Grund schaffte ich es einfach nicht, tatenlos herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas geschah. Ich wäre am liebsten auf der Stelle losgestürzt, um mich unter jedem Kanaldeckel, in sämtlichen Geräteschuppen und Kellern Londons nach ihr umzusehen. Um herauszufinden, von wem sie zuletzt gesehen worden war, rief ich bei diversen Leuten und am Schluss sogar bei ihrer Mutter an.
»Alice, wie schön, von dir zu hören!« Tinas Stimme klang genau wie die von ihrer Tochter, und ich sah sie vor mir, wie sie, etwas kräftiger als Lola, aber mit demselben kilometerbreiten Lächeln und inzwischen leicht verblassten roten Locken, neben ihrem Flurtisch stand. »Bist du wegen heute Abend auch so aufgeregt?«
»Wegen heute Abend?«
»Wegen Lolas großem Auftritt, Schatz. Den hast du doch wohl nicht etwa vergessen? Die Tremaines werden ganz vorne in den ersten beiden Reihen sitzen, und ich habe auch für dich einen Platz dort reserviert.«
»Es tut mir leid, Tina, aber ich habe eine schlechte Nachricht.«
Dann platzte ich einfach damit heraus, dass Lola verschwunden war und ihr Freund in Schweden im Gefängnis saß.
Tina schwieg zunächst, denn schließlich musste sie die Neuigkeiten erst einmal verdauen, aber schließlich fragte sie mit dumpfer Stimme: »Sie hat doch wohl keine Dummheiten gemacht?«
Ich fragte mich zum ersten Mal, ob ich möglicherweise auf dem falschen Dampfer war. Manchmal fällten Menschen diese Entscheidung innerhalb von wenigen Sekunden, weil die Last ihrer Verzweiflung nicht mehr zu ertragen war. Und häufig hinterließen sie noch nicht mal einen Abschiedsbrief.
»Nein, natürlich nicht«, versicherte ich ihr in möglichst ruhigem Ton. »Ich bin mir sicher, dass sie ihre Gründe hat, wenn sie momentan nicht zu erreichen ist.«
Nach dem Gespräch schwirrten mir die unzähligen Möglichkeiten durch den Kopf, aus denen Lola vielleicht verschwunden war. Vielleicht hatte sie ja einfach einen Unfall, eine Amnesie oder einen Nervenzusammenbruch gehabt. Oder vielleicht waren Lars’ Geschäfte ja noch finsterer gewesen, als ich dachte, und einer der Typen, denen er was schuldete, hatte sie sich geschnappt. Doch im Grunde stellte ich all diese Überlegungen nur an, um mich von dem unerträglichen Gedanken abzulenken, dass sie in den Händen meines Brieffreunds war. Als ich meine Augen schloss, sah ich ihren makellosen, mit zahlreichen goldenen und kupferroten Sommersprossen übersäten Körper vor mir.
Irgendwann hielt ich die Enge meines Zimmers nicht mehr aus. Tina und ich hatten bei sämtlichen von Lolas Freundinnen und Freunden, allen Krankenhäusern in London und selbst bei der Telefonseelsorge angefragt, ob ein Anruf von ihr eingegangen war, doch niemand hatte irgendwas von ihr gehört. Ich hockte auf meiner Bettkante und starrte den schlammbraunen Himmel an. Es war nirgendwo auch nur ein Stern zu sehen, einzig die bleichen Konturen des Mondes tauchten ab und zu in einer Wolkenlücke auf.
Ich wählte die Nummer von Ben, aber er ging nicht an den Apparat. Sicher wusste er noch gar nicht, dass Lola verschwunden war. Denn aus Burns’ Sicht war meine Vermisstenanzeige wahrscheinlich völlig übertrieben, und er hatte sie ihm gegenüber mit keinem Wort erwähnt.
Das Geräusch, das plötzlich durch die Tür von meinem Zimmer drang, war mir inzwischen hinlänglich vertraut. Es war gerade mal halb acht, doch Meads schnarchte bereits gemütlich vor sich hin, und ich fasste spontan einen Entschluss, schnappte mir meine Handtasche und meinen Mantel und schlich auf Zehenspitzen durch die Tür.
Zwar war der Fernseher noch an, doch Meads hatte sich auf dem Sofa ausgestreckt, wo ihm entweder aus Erschöpfung oder weil diese spezielle Folge von Hollyoaks
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