Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
nicht schreien, aber er sah ihre angstverzerrten Gesichter und aufgerissenen Münder. Die Pufferbohle der Lok rammte die Barriere, und die Sandsäcke flogen in sämtliche Richtungen davon.
Diesmal schaffte es der Professor nicht, sich am Schornstein festzuhalten. Er stürzte armrudernd zu Boden und landete genau vor den Rädern des eisernen Ungetüms. Der Triumph des wissenschaftlich-technischen Fortschritts hatte ein unrühmliches Ende gefunden.
EPILOG
Die Dampflok kam am Bahnsteig der Station Biblioteka imeni Lenina zum Stehen – und zwar kurz vor der Mitte, genau unter einem festlichen Transparent, das über dem Gleis gespannt war und die Besucher in der Polis »herzlich willkommen« hieß.
Dem Führerstand entstieg ein stattlicher Mann, der ein Bein nachzog. Er war schmutzig, voller Kratzer im Gesicht und fast vollständig ergraut . A uf den Händen trug er eine junge Frau, deren Kopf und Arme kraftlos herabhingen. Ihm folgte ein stämmiger Typ mit einem groben Soldatengesicht.
In der Menge machte sich Unruhe breit.
»Einen Arzt!«, rief jemand. »Einen Arzt!«
Tolik wusste nicht, wohin mit sich. Eine Krankenschwester trug blutgetränkte Laken aus dem OP -Raum und kehrte kurz darauf mit einer Schüssel heißen Wassers zurück. Tolik versuchte, Blickkontakt aufzunehmen, doch sie vermied es, ihn anzusehen.
Anscheinend stand es schlecht um Jelena.
Im Wartezimmer war es ziemlich finster . A n der Decke brannte nur eine einzige, schwache Lampe. Wohl aus diesem Grund bemerkte Tolik den groß gewachsenen Mann nicht sofort, der in der anderen Ecke des Raumes saß. Er war mit einem Kapuzenumhang bekleidet und hielt eine ausgeschaltete Taschenlampe in der Hand.
Als Tolik seinen alten Bekannten erkannte, sprang er auf.
»Wird sie durchkommen?«
»Wir werden ihr schon helfen können«, murmelte der Streckenwärter. »Wäre schade um das Mädchen.«
»Und ich?«, fragte Tolik. »Wo soll ich hin?«
»Wohin du willst«, erwiderte der Streckenwärter achselzuckend. »Deine Mission ist erfüllt. Du bist ein freier Mensch. Die ganze Metro gehört dir.«
»Dann bleibe ich wohl hier in der Polis«, sagte Tolik. »Mit Lena. Ich versuche, ein neues Leben anzufangen . A ls wäre ich ein neuer Mensch.«
»Möchtest du nicht zurück zur Guljaipole ?«
»Dort habe ich doch niemanden mehr . A ußerdem muss man dort an etwas glauben . A n einfache Wahrheiten. Und das ist nicht so meins … im Moment.«
»Das geht vorbei«, sagte der Streckenwärter. »Die Wunde vernarbt.«
Er stand auf und kam zu Tolik herüber. Dann hob er die Hand und schlug seine Kapuze zurück . V or Tolik stand ein Mann mit harten Gesichtszügen und ergrautem Haupt. Es war sein Spiegelbild.
Tolik lächelte.
»Wir treffen uns doch wieder?«
»Aber sicher. Wir beide müssen doch noch dieses ominöse Gleis finden … Das auch im dunkelsten Tunnel noch glänzt. Jetzt hast du einfach mal Pause, Soldat.«
In der Tür erschien Arschinow – frisch rasiert, munter und ohne die Spur einer Alkoholfahne.
»Tolik, mit wem redest du eigentlich?«, fragte der Fähnrich und schaute ratlos im Raum umher.
»Mit dem Schicksal«, erwiderte Tolik leise.
Die Tür des OP -Raums ging auf . A uf der Schwelle stand ein erschöpfter Chirurg in einem grünen Kittel. Tolik stürzte auf ihn zu und fasste ihn am Arm. Der Arzt lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.
»Alles wird gut.«
ANMERKUNGEN
Anmerkung 1:
Tolik
Kurzform für Anatoli.
Anmerkung 2:
Pjotr Woikow (1888–1927)
Russischer Revolutionär und sowjetischer Parteifunktionär, Namenspatron der Metrostation Woikowskaja . A n der Ermordung der russischen Zarenfamilie im Juli 1918 war er insofern beteiligt, als er mit seiner Unterschrift die Bereitstellung großer Mengen Schwefelsäure bewilligte, um die Gesichter etlicher Mordopfer unkenntlich zu machen.
Anmerkung 3:
Nestor Machno (1888–1934)
Ukrainischer Anarchist. Während des russischen Bürgerkriegs war er der Anführer einer anarchistischen Bauern- und Partisanenbewegung, die von 1917–1922 in der Ukraine aktiv war. Er stellte eine bis zu 50000 Mann starke Partisanenarmee auf die Beine und machte seinen Heimatort Guljaipole (heute: Huljaipolje) zur »Hauptstadt« der Bewegung. Die anarchistischen Denker Michail Bakunin und Fürst Kropotkin hatten maßgeblichen Einfluss auf Machnos Vorstellungen von einer freien Gesellschaft.
Anmerkung 4:
Saporoger Sitsch
Als »Sitsch« wurden befestigte Niederlassungen des Saporoger Kosakentums
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