Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
einnehmen.
Außerdem hatte er selbst Nervenflattern bekommen. Ein schöner Anführer war er …
Tolik hatte es so eilig, dass er seine eigenen Prinzipien über Bord warf, als in der linken Tunnelwand eine Türnische auftauchte: Ohne die üblichen Sicherheitsvorkehrungen lotste er den Trupp an dem Betriebsraum vorbei.
Plötzlich knackte etwas unter seinem Stiefel. Ein völlig anderes Geräusch als das Knirschen des Schotters. Ein trockenes Knacken, das hallte wie ein Schuss.
Reflexartig machte Tolik einen Satz zur Seite und hätte ums Haar Grischa umgerannt . A ls er dem Frontmann die Taschenlampe abnahm, hätte er sie beinahe fallen lassen, so nass waren seine Hände.
Tolik leuchtete die Stelle ab und atmete auf. Er war einem Skelett auf den Fuß getreten. Nichts weiter. Die Springbockeinlage hätte er sich sparen können. Peinlich für einen Kommandeur.
Mit Gebeinen konnte man die Bewohner der Metro nicht schrecken. In manchen Tunneln traf man öfters auf Skelette als auf lebendige Menschen.
Tolik hatte schon viele Leichen gesehen – in den verschiedensten Verwesungszuständen . A nfangs hatte er sich noch Gedanken darüber gemacht, wer diese Menschen wohl zu Lebzeiten gewesen waren . A nhand von Äußerlichkeiten hatte er versucht, ihren Beruf zu erraten. In den leeren Augenhöhlen von Totenschädeln hatte er Antwort auf die Frage gesucht, wen diese Menschen geliebt oder gehasst hatten.
Doch nach einiger Zeit war er abgestumpft. Die Toten im Tunnel beschäftigten ihn nicht weiter. Sie waren eben Leichen. Nicht mehr und nicht weniger. Ein Stück Aas, das nichts denkt und noch nie etwas gedacht hatte.
Einmal hatte Tolik sogar überschlagen, wie viele Leichen er in seinem Leben schon gesehen hatte, und diese Zahl der geschätzten Gesamtbevölkerung der Metro gegenübergestellt. Den Vergleich hatten die Toten gewonnen. Und zwar so haushoch, dass man sich an fünf Fingern abzählen konnte, dass die Tunnel sich innerhalb von zehn Jahren in Skeletthalden verwandeln würden, wenn man nichts gegen das Problem unternahm. Das Grundübel war, dass die Lebenden so sehr mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie sich nicht um die Toten kümmerten. Schließlich brauchten Leichen weder Waffen noch Brennstoff noch Nahrung. Wieso sollte man wertvolle Zeit für sie verschwenden, wenn es weit Wichtigeres zu tun gab?
Nach dem Motto: Sollen die Toten ihre Leichen doch selbst bestatten! Sollen sie die Leichen doch zu sich in die Tunnel holen und in ihren eigenmächtig vereinnahmten Leichenkammern stapeln! Hauptsache, sie lassen sich nicht bei den Lebenden an den Stationen blicken.
Doch wie sähe dann die Zukunft der Metro aus?
Die Lichter der Taschenlampen spuken nicht mehr durch leere Tunnel, sondern verlieren sich in endlosen Skelettbergen zwischen Beckenknochen, grinsenden Schädeln und verrotteten Klamotten. Eine Reise von Station zu Station dauert zehn- oder zwanzigmal länger als früher. Die Leute müssen sich in den Knochenhaufen Gänge freischaufeln und auf Seitentunnel und Schächte ausweichen, wo gar nichts mehr geht. Draisinenfahrten gehören für immer der Vergangenheit an. Di e Verbindungen zwischen den Stationen reißen mehr und mehr ab.
Die ohnehin unsäglich beengte Welt der Metrobewohner wird zusätzlich auf den spärlichen Raum der Stationen eingeschränkt. Die Sterblichkeit indes steigt, und die Leichenberge wachsen. Irgendwann wird sich die geballte Masse der Gebeine in Bewegung setzen und wie ein Lavastrom langsam in die Stationen kriechen. Die auf ihren Bahnsteigen festsitzenden Menschen werden weitersterben, bis die Rache der unbestatteten Toten vollendet ist und die Metro als randvoll mit Knochen gefülltes Grab ihr Dasein beschließt.
Unsinn! Schließlich gab es vielerlei Möglichkeiten, die Skelette zu beseitigen. Die Menschen würden das Problem schon lösen. Immerhin bestatteten sie ihre eigenen Verwandten. Und wenn jeder sich die Zeit nähme, einen unbekannten Toten zu beerdigen, würde das grausige Bild, das seine Fantasie sich ausgemalt hatte, niemals Wirklichkeit werden.
Tolik spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte. Hinter ihm stand Kolja. Der Lauf seines Sturmgewehrs zeigte nach unten, und die Lampe beleuchtete die Beine des Skeletts. Der übrige Teil des Gerippes lag im Dunkel des Betriebsraums.
»Weißt du was, Tolik? Meine Mutter hat mir mal von einem Volksglauben erzählt.«
»Und was besagt der?«
»Wenn du einen unbeerdigten Toten bestattest, erlässt dir Gott drei
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