Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Sünden.«
    »Dann wirst du mit dem Bestatten aber nicht mehr fertig, so viele Sünden, wie du angehäuft hast«, stichelte Sergej. »Vor einem Jahr hast du dir zum Beispiel ein ganzes Magazin Patronen bei mir geliehen und bis heute nicht zurückgegeben. Es ist Sünde, seine Schulden nicht zu bezahlen.«
    »Drei Sünden, sagst du?« Tolik überlegte, wie lange es wohl dauern würde, in dem harten Boden eine Grube auszuheben, und traf eine spontane Entscheidung. »Kolja, das ist eine hervorragende Idee!«
    In der Kammer fanden sich rote und schwarze Schaufeln, die aus zerschnittenen Motorhauben improvisiert worden waren. Der Sabotagetrupp verwandelte sich kurzfristig in ein Bestattungskommando. Mit vereinten Kräften hoben sie in weniger als zehn Minuten ein Grab aus. Da die Kleidung des Toten zwar zerfetzt, aber nicht völlig verrottet war, fiel das Skelett nicht auseinander, als sie es in die Grube hoben.
    Au f Toliks Kommando begannen die Männer, das Grab zuzuschaufeln.
    Plötzlich ertönte ein lautes Scheppern.
    Grischas Sturmgewehr war aufs Gleis gefallen. Der Hüne selbst hielt sich mit den Händen die Ohren zu, stöhnte kläglich und taumelte wie ein Betrunkener am Rand der Grube entlang.
    »Hört ihr nicht, wie ihre Flügel schlagen?!«, schrie er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es sind Vögel! Vögel haben ihn getötet! Schaut euch doch den Schädel an. Seht ihr das nicht? Da sind Spuren von Schnabelhieben. Hier hausen Vögel!«
    Grischa stürzte zu seinem Gewehr. Noch bevor ihn jemand daran hindern konnte, packte er die Waffe, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und riss den Lauf nach oben.
    »So leicht gebe ich nicht auf! Ich …«
    Alle standen da wie gelähmt. Was tun? Die Zeit schien stehen geblieben. Wie eingefroren.
    Nur für Tolik lief sie weiter. Er behielt kühlen Kopf. Jedes Geschoss, das der panische Grischa an die Decke feuerte, würde an den Vorsprüngen der Tunnelsegmente abprallen und als gefährlicher Querschläger durch die Gegend fliegen. Damit brachte der Schütze sich selbst und seine Kameraden in Gefahr.
    Tolik reagierte blitzschnell. Mit der einen Hand riss er den Gewehrlauf nach unten, mit der anderen versetzte er dem Wüterich einen Faustschlag ins Gesicht. Lautlos sackte Grischa an der Wand zusammen. Seine Kameraden klappten verblüfft die Münder auf.
    Der Kommandeur rieb sich die Faust.
    »In fünf Minuten wird unser Ornithologe wieder zu sich kommen.«
    Der Reigen der Überraschungen schien damit beendet zu sein. Doch weit gefehlt …
    Untermalt vom leise klagenden Tunnelwind pfiff jemand eine fröhliche Melodie. Nikita!
    Er hockte nicht weit vom frisch geschaufelten Grab und schlüpfte mit völlig ungerührter Miene in seine NKWD -Uniform, die er aus dem Rucksack geholt hatte.
    »Tolle Methode zur Bekämpfung von Platzangst«, lästerte er. »Eine rechte Gerade voll in die Fresse. Bravo, Genosse Anatoli. Wenn er wieder zu sich kommt, wird er uns sicher keine Probleme mehr machen.«
    Mit einiger Verwunderung beobachtete Tolik di e Verrichtungen des Überläufers. Der hatte aufgehört zu pfeifen und zog sich gerade den zweiten Stiefel an. Dann stand er auf und pflanzte sich die Schirmmütze aufs kahle Haupt.
    »Aber wie kommt er darauf, dass hier Vögel sein sollen?«, fragte Sergej. »Das ist mir ein Rätsel.«
    »Ach, ihr jungen Leute, ihr habt von vielen Dingen keine Ahnung«, schulmeisterte Nikita. »Der erste Name des Prospekt Marxa war Ochotny rjad . Und warum? Weil vor langer Zeit in der gleichnamigen Straße Wild- und Hausgeflügel verkauft wurde. Dies e Vögel treiben sich jetzt in der Metro herum, nur dass sie nicht jeder sehen kann. Es gibt viele Dinge auf der Welt, meine Freunde, die unsere Wissenschaftler – zum Beispiel Korbut – nicht mal im Traum für möglich halten würden.«
    Tolik ärgerte das Gerede, aber er ließ sich nichts anmerken.
    Grischa war inzwischen wieder zu sich gekommen. Ächzend setzte er sich auf und betastete sein verbeultes Gesicht. Er konnte sich an nichts erinnern und schaute seine Kameraden, die sich über ihn beugten, verständnislos an. Seine Frage, was passiert sei, ignorierte Tolik geflissentlich.
    Der Blick des Hünen wurde allmählich wieder klar. Jetzt konnte es weitergehen. Sie schaufelten noch rasch das Grab zu und machten sich auf den Weg.
    Tolik sparte es sich, Nikita zu fragen, warum er nun wieder in Uniform ging. Man konnte es sich denken. In etwa einer halben Stunde würden sie den kommunistischen Stationsknoten