Im Tunnel: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)
Ansicht erschien ihm durchaus plausibel. Wie hätte er sonst bei seinem Rückzug von der Lubjanka am Dreieck Puschkinskaja-Tschechowskaja-Twerskaja vorbeikommen sollen? Er war ja wohl kaum unbemerkt an den Faschisten vorbeigekrochen. Man konnte den Soldaten des Reichs alles Mögliche unterstellen, aber keinesfalls eine lasche Dienstauffassung.
Tolik war sich sicher, dass mindestens ein Drittel der geheimnisvollen Gänge, durch die er geirrt war, nicht nur in seiner Einbildung, sondern tatsächlich existierten. Und wenn er sie gefunden hatte, dann wussten sicher auch andere Leute davon.
Aus dem Seitenkorridor führte Krabbe Tolik in den Haupttunnel. Nach weiteren zweihundert Metern erreichten sie den Bahnsteig der Majakowskaja .
Tolik hatte das Gefühl, als wäre seit seinem letzten Aufenthalt hier eine halbe Ewigkeit vergangen. Nach seinem gespenstischen Trip durch menschenleere Labyrinthe der Metro kam ihm die Station nicht mehr ganz so trostlos vor. Immerhin lebten hier Menschen, die liebten und hassten. Wie an jeder anderen Station.
Die Zelte waren immer noch so zerrissen wie beim letzten Mal . A uch der Schaschlikbrater mit seiner versifften Schürze und seinem stinkenden Grill war wieder da. Nur, wieso sah ihn der Mann mit den Schweinsaugen so geringschätzig an? Beim letzten Mal hatte er fast kriecherisch aus der Wäsche geguckt, als der stattliche Kämpfer im Tarnanzug an ihm vorbeimarschiert war.
Tolik sah an sich herab und fuhr sich mit der Hand übers stoppelige Kinn. Die verdreckte Jeans, die schmutzigen Hände … Verflucht, er war übel heruntergekommen in den letzten Tagen (oder Wochen?)!
Vor einem der Zelte kauerte ein fast zum Skelett abgemagerter Mann . A uf seinen Knien hatte er einen gesprungenen Spiegel platziert und schabte sich mit einem Rasiermesser den Fünftagebart von der Wange. Kurz entschlossen trat Tolik hinzu und fragte, ob er mal kurz in den Spiegel schauen dürfe. Das Skelett machte ein verblüfftes Gesicht und drückte ihm kopfschüttelnd den Spiegel in die Hand.
Tolik versteinerte vor Schreck, als er sein Ebenbild sah. Es war nicht das eingefallene, dreckverschmierte Gesicht, das ihn so schockierte, sondern etwas Unglaubliches: Er war vollständig ergraut! Fassungslos wischte Tolik mit dem Ärmel über den Spiegel. Keinerlei Veränderung. Dann fuhr er sich hastig mit der Hand durchs Haar in der Hoffnung, dass die graue Farbe nur einer Staubschicht geschuldet war. Doch auch das half nichts. Sein Schopf blieb grau.
Fluchend gab Tolik den Spiegel zurück und holte seinen Begleiter wieder ein.
Krabbe führte Tolik ans andere Ende des Bahnsteigs. Hier befand sich hinter einer Ansammlung gewöhnlicher Zelte ein separater Bereich, der wie der Kraftraum an der Guljaipole mit Planen abgetrennt war . A us dem Inneren drangen Stimmen. Eine Reibeisenstimme krächzte ein Lied.
»Das ist unsere Grube!«, verkündete Krabbe.
Schon wieder eine Grube? Tolik hatte noch genug von dem Knochenschacht, in dem er Kolja verscharrt hatte. War nicht die ganze Metro eine einzige, gigantische Grube?
Zuvorkommend schlug Krabbe die Plane am Eingang zurück. Kurz darauf fand sich Tolik in einer richtigen Räuberhöhle wieder. Zwischen Petroleum- und einfachen Schalenlampen saß ein bunt gemischtes Publikum – teils an Tischen, teils einfach auf dem Boden . A ngesichts dieser »Internationale« wären selbst Kommunisten vor Neid erblasst. Slawen, Zigeuner, dunkelhäutige Kaukasier und schlitzäugige Tadschiken hatten sich zu einem lärmenden Haufen zusammengerottet. Einige spielten Karten, die sie energisch auf den Tisch knallten. Die meisten waren in angeregte Unterhaltungen vertieft, die sie mit Gaunerslang und unflätigen Schimpfwörtern würzten . A ndere tranken einfach nur Tee oder rauchten.
Den Mann, den Krabbe Kreuz nannte, entdeckte Tolik sofort. Dazu musste man nicht sonderlich scharfsinnig sein. Im hintersten Winkel des abgegrenzten Bereichs befand sich ein größerer freier Raum – eine Art Vakuum, in das nicht einmal der Machorkaqualm vorzudringen schien.
In der Mitte dieses freien Raums stand ein niedriger Diwan, auf dem ein etwa sechzigjähriger, barfüßiger Mann lümmelte. Sein offenes Hemd entblößte eine haarlose Brust, auf der ein tätowierter blauer Tiger den Rachen aufsperrte.
Kreuz spielte gelangweilt mit einem Kettchen aus Plastikperlen herum und unterhielt sich mit einer rothaarigen Frau, die zu seinen Füßen saß.
Krabbe fasste Tolik am Arm und zog ihn hinter sich her .
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