Im Visier des Todes
große Spiegel, der im gusseisernen Rahmen den Flur geziert hatte, war zerschlagen.
»Mutter?«
Das Wimmern kam aus ihrem Schlafzimmer, fast übertönt von dem hässlichen Knirschen unter ihren Füßen. Die Dunkelheit schnürte sie ein. Nur ein schmaler Streifen Licht traute sich aus dem Türspalt und lockte sie zu sich.
Sie gab der Klinke einen Stoß und zog die Hand sogleich zurück. Geräuschlos schwang die Tür auf, und plötzlich wusste Leah nicht, wohin sie schauen sollte.
Auf das Bettzeug? Ausgeweidet wie ein erlegtes Tier.
Auf die Bilder, denen ihr Stiefpapa so leidenschaftlich mit seiner Kamera hinterhergejagt war? Von den Wänden gerissen und auf dem Boden zerschlagen.
Auf die Möbel? Bedeckt mit wütenden Linien, Buchstaben, die zu zwei Wörtern verflossen, die sie von überall her anklagten. Lass es. Lass es. Lass es. Lass es …
Auf ihre Mutter. Die zusammengekauert in einer Ecke hinter einem umgekippten Rattansessel hockte, der sich wie ein Schutzwall vor ihr aufbaute. Ihre Bluse war aufgerissen, der eine Ärmel, an dem sie unter halb ersticken Schluchzern zupfte, klaffte an der Naht auf. Ihr Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst.
Leah konnte kaum etwas anderes erkennen als dieses wirre Haar, das ihrer Mutter strähnig ins Gesicht hing und unter ihren Atemstößen leicht zitterte.
Leah stolperte über die verknäulte Bettwäsche zu ihr, warf den Rattansessel beiseite und ließ sich nieder. »Was ist passiert? Was ist hier passiert?« Sie spürte, wie sich der Rücken der Mutter unter ihrer Handfläche anspannte. Die Bluse war durchgeschwitzt, keine Duftwolke aus Nachthyazinthen und Palmarosa umnebelte sie, sondern bloß der Geruch einer verängstigten Frau. Ihr Wimmern und Schluchzen vermischten sich zu einem dumpfen Heulen.
»Mutter, bitte, sag doch etwas! Was ist geschehen?« Sie strich das Haar beiseite, umschloss die schlaffen Wangen mit beiden Händen und hob das Gesicht leicht an.
Tränen weichten das angetrocknete Blut auf und liefen in schmutzigen Bächen herunter. Kein Gesicht – eine einzige Maske des Entsetzens.
Ihr wurde schwindelig von diesem Anblick. Sie musste sich zwingen, hinzusehen, zu trösten, ihre eigene Panik herunterzuschlucken.
Mit gespreizten Fingern tastete ihre Mutter umher. »Du bist da … «, kam es zwischen den aufgeplatzten Lippen hervor. »Ich hatte solche Angst. Ich hatte solche Angst, dass sie auch dir etwas Schlimmes antun!« Die Mutter vergrub das klebrig nasse Gesicht an Leahs Hals. »Du bist da … du bist da … «
Hände kneteten ihre Schultern und Oberarme, gruben sich in ihren Rücken und drückten sie. Drückten fast die ganze Luft aus ihr heraus.
Leah keuchte. »Sie? Wer war das? Wer hat dir das angetan?«
Die Mutter schüttelte den Kopf. Die zerschlagenen Lippen kratzten an Leahs Ohr. »Ich … ich weiß es nicht. Es hat geklingelt, ich habe die Tür aufgemacht und wurde gestoßen, zu Boden geschlagen. Getreten, immer wieder. Er sagte, ich soll es mögen.«
»Er. Es war ein Mann?«
»Ja. Nein. Ich … ich weiß es nicht mehr.« Die Mutter drückte sich wieder in die Ecke, zupfte mit fahrigen Händen an ihrer Bluse. »Ich kann mich nicht erinnern. Es ist so … durcheinander hier … « Ihr Blick irrte durch das verwüstete Zimmer, bis er an Leahs Gesicht hängen blieb. »Hast du dich geschminkt?« Sie benetzte die Finger mit Spucke, die durch das Blut rostig wirkte, und hob den Arm. »Ach, Kleines, das hast du doch nicht nötig, du hast so schöne … «
Leah fing die Hand ab, bevor sie über ihre Augenlider reiben konnte. »Ich rufe jetzt einen Notarzt, okay?«
»Nein!« Der Schrei der Mutter fuhr schneidend durch ihr Inneres. »Nein, nein! Keinen Notarzt. Keine Polizei. Leah, bitte! Sonst kommen sie zurück und bringen uns um.«
»Sie? Also waren es doch mehrere … Angreifer?«
»Er. Sie. Jemand war hier. Ja, hier. So ein Durcheinander ist hier, so ein Durcheinander!« Sie tastete nach der Wand und stand auf. »Ich räume alles auf, das verspreche ich dir. Es ist nichts passiert. Wir … wir schaffen das schon. Nichts passiert.« Sie taumelte ein paar Schritte vorwärts und begann die Fetzen der Bettwäsche zusammenzuraffen.
»Hör auf!« Leah kam auf die Beine und griff nach ihrem Ellbogen. Das Bündel, das sich in den Armen ihrer Mutter bereits aufgehäuft hatte, fiel zu Boden. Die Bluse ihrer Mutter verrutschte.
Lass es.
Zwei Worte, sechs Buchstaben, eingeritzt ins Fleisch, quer über die Brust. Leah schnappte nach Luft. Ihr
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