Im Visier des Verlangens
küsste ihn, nicht um ihn in die Knie zu zwingen, sondern weil er es geschafft hatte, ihr den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie kostete von ihm, und er schmeckte nach Salz und Mann und Kraft. Und er erwiderte ihren Kuss ohne Vorbehalt.
Doch dann entzog er sich ihr. „Nein, Kate“, raunte er. „Ich will dich nicht einschüchtern. Und ich will nicht, dass du Angst vor mir hast. Ich will dich ansehen und begreifen, was mir in diesen langen Jahren gefehlt hat. Du bist eine kriegerische Walküre.“
Er drehte sie wieder zum Spiegel. Kate war den Tränen nahe.
Sie wollte nicht, dass ihre geheimsten Träume wahr wurden, wollte nicht wieder Hoffnung fassen. Aber es war zu spät. Ihre Sehnsucht war bereits entfacht.
„Das stimmt nicht ganz, fürchte ich“, erklärte sie tapfer. „Als Walküre wäre ich ein Geistwesen und hätte keine Gefühle.“
„In den Göttersagen“, entgegnete er mit dunkler Stimme, „besiegt die Heldin den Drachen und enthauptet ihn. Und die Dorfbewohner jubeln ihr zu und errichten ein Freudenfeuer, und das Land ist für alle Ewigkeit von Dunkelheit befreit.“
Seine Hände lagen warm und kraftvoll an ihrer Mitte. „Aber so etwas“, fuhr er fort, „geschieht nur in der Sagenwelt. In unserer wirklichen Welt …“
Er lächelte ihr im Spiegel zu. In seinem traurigen Lächeln lag etwas Mystisches, als wolle er ihr ein tief verborgendes Geheimnis anvertrauen. Sie widerstand der Versuchung, ihrenRücken an ihn zu lehnen.
„In Wahrheit“, flüsterte er, „sterben die Drachen nie, und kein Ritter in silberner Rüstung kann sie mit seinem Schwert erschlagen. Wahre Helden zähmen ihre Drachen. Deine Angst, meine …“ Er führte den Satz nicht zu Ende, und sein wehmütiges Halblächeln schwand. Hätte sie ihn nicht so forschend angesehen, wäre ihr dieses wechselnde Mienenspiel entgangen.
„Deine was?“, hakte sie nach.
„Ich bin nach China gegangen, um meine Drachen zu töten. Stattdessen habe ich sie gezähmt.“
„Ich dachte, deine Aufgabe in China sei es gewesen, Blakelys Investitionen in der East India Company zu überprüfen, um festzustellen, ob die Gerüchte der Wahrheit entsprachen.“
Er zuckte mit den Schultern, und Kate entsann sich seiner Worte. Deine Gefühle gehören dir. Und wo blieben seine Gefühle?
„Ist es wichtig, zu wissen, warum ich gegangen bin?“, fragte er. Er schien die Frage für rhetorisch zu halten, denn ehe sie antworten konnte, fuhr er fort: „Ich kann die Vergangenheit nicht ändern, Kate. Alles, was ich tun kann, ist, meine Fehler wiedergutzumachen. Du schreckst immer noch vor mir zurück, deine Erinnerung an den Schmerz, den ich dir zugefügt habe, ist immer noch wach. Und das will ich ändern. Wenn du also vor mir zurückweichst, werde ich nicht mit Ärger darauf reagieren. Du verdienst meine Geduld.“
„Und wo wirst du sein?“ Kates Stimme bebte. „In der Zeit, während du geduldig auf mein Vertrauen wartest, wo wirst du sein?“
„Wo ich sein werde?“ Sie spürte wieder den Hauch seines Atems. „Ich werde hier sein, wo ich die ganze Zeit hätte sein sollen. Wenn du denkst, deine Verteidigungswälle stürzen ein, richte ich sie wieder auf. Wenn du glaubst, du kannst nicht mehr stehen, gebe ich dir Halt, glaube mir. Ich hätte dich nie verlassen dürfen. Und wenn du erkennst, dass du nichts anderes tun musst, als dich anzulehnen …“
Der Griff seiner Hände um ihre Mitte festigte sich. Nein, sie erlag nicht der Versuchung, sich anzulehnen.
„Diesmal gebe ich dir Halt, wenn du dich anlehnst.“
Oh Gott, sie war schutzbedürftig wie eh und je. Und gefährlich nah daran, Halt bei ihm zu suchen im Vertrauen darauf, dass er sie auffangen würde, wenn sie ins Wanken geriete. Sie wollte glauben, dass er sie diesmal nicht im Stich lassen würde … und darin bestand vermutlich die größte Gefahr.
Ich habe mich idiotisch verhalten, überlegte Ned, nachdem Kate gegangen war.
Nicht, weil er sie angesehen hatte. Es war auch nicht töricht, ihr ein Versprechen zu geben. Und der Kuss war beglückend, auch wenn er von ihr ausgegangen war.
Nein, die Dummheit war, dass er sich zu einem halben Geständnis hatte hinreißen lassen.
Deine Angst, meine …
Mehr hatte er nicht gesagt, nicht aus Argwohn, sondern nur, weil ihm das richtige Wort nicht in den Sinn gekommen war. Sein fehlender Wortschatz hatte ihn gerettet, nicht sein Stolz oder sein Schamgefühl. Ihre Angst, seine … Was war es denn, dieses schwarze Etwas, das ihm
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