Im Wahn - Moody, D: Im Wahn - Hater
den Hass in Harrys Augen gesehen habe, will ich ihn nicht so liegen lassen – halb angezogen und zusammengesackt in einer Ecke des Zimmers. Ich ziehe an seinen Füßen, damit ich ihn ausstrecken kann, aber seine Gliedmaßen sind steif und ungelenk. Ich hole eine Bettdecke aus dem Schlafzimmer und decke die Leiche damit zu.
Während ich mich um den Leichnam kümmere, höre ich ein Geräusch. Ich richte mich auf, laufe ins Wohnzimmer und sehe zu dem kaputten Fenster hinaus. Zwei Armeelaster sind in die Straße eingebogen; ich weiß, ich muss schnellstens hier weg. Ich bin nicht sicher, ob mir diese Soldaten helfen oder ob sie sich gegen mich wenden werden. Ich darf kein Risiko eingehen. Was war mit der Frau, die heute Morgen auf offener Straße erschossen wurde? War sie wie ich oder wie die anderen? War sie auch ein Hasser?
Beweg dich. Lauf los und halt nicht mehr an. Aber wohin soll ich gehen? Die Lastwagen kommen näher. Ich hänge mir die Tasche über die Schulter und laufe aus der Wohnung ins Treppenhaus. Wohin jetzt? ob sie auch die oberste Wohnung durchsuchen? Kann ich es riskieren und mich da verstecken? Aber ich weiß, ich muss weg, und laufe zum Hinterausgang. Ich will die Feuertür öffnen, doch die ist mit einem vorhängeschloss gesichert. Herrgott, wie lange ist das denn schon so? Was wäre aus Lizzie und den Kindern geworden, wenn wirklich ein Feuer ausgebrochen wäre? Spielt keine Rolle mehr. Ich drehe mich um und sehe etwas direkt vor dem Mietshaus. Sie kommen. Beweg dich. Beweg dich einfach.
Die Tür der anderen Erdgeschosswohnung steht offen. Ich trete ein, es stinkt. offiziell hat in den letzten sechs Monaten niemand hier gelebt, aber die Wohnung wurde regelmäßig von Pennern, Junkies, Alkis und weiß Gott von wem und was noch benutzt. Der Grundriss ist ein Spiegelbild meiner Wohnung. Ich laufe durch die Küche und reiße das Fenster über der Spüle auf. Jetzt höre ich die Soldaten in dem Gebäude. Höre ihre stampfenden Schritte im Treppenhaus. Ich klettere durch das Fenster und springe in den ungepflegten Gemeinschaftsgarten. Ich bin draußen. ohne nachzudenken renne ich durch das hohe Gras bis zum Ende des Gartens, dann hastig die schlammige Böschung des Damms hinauf, der unseren Block von den Gärten der privaten Wohnhäuser hinter uns trennt. Ich laufe an den Rückseiten der Gärten entlang, bis ich zu einem hohen Holzzaun komme. Ich muss versuchen darüberzuklettern. Meine Armmuskeln schmerzen vor Anstrengung, als ich mich hochziehe, und
es gelingt mir, einen Fuß über den Zaun zu schwingen. Ich hieve mich hinüber, springe auf der anderen Seite auf das Kopfsteinpflaster und lande schmerzhaft inmitten von Hundescheiße, Abfall und Unkraut. Ich stehe auf, klopfe mich kurz ab und laufe weiter.
33
Das sicherste versteck, entscheide ich beim Laufen, ist irgendwo, wo die Soldaten schon gewesen sind. Ich mache kehrt und laufe die Parallelstraße zur Calder Grove entlang, überquere zwei Nebenstraßen und befinde mich schließlich im Marsh Way. Hier sah ich die Soldaten patrouillieren, als ich sie heute Morgen vom obersten Stock aus beobachtet habe.
Die Straße ist verlassen. Keine Spur einer Militärpräsenz. Ich stehe im Schatten unter einem Baum am Ende der Straße und sehe mich um. Kein Anzeichen, dass überhaupt jemand anwesend wäre. Alles ist vollkommen still. Nichts bewegt sich. Außer mir.
Ich bemerke, dass die Eingangstür eines Hauses auf der anderen Straßenseite gerade einen Spalt geöffnet wurde. Ich laufe hin und zwänge mich hinein. Der Hausbesitzer schleift gerade einen Sack Müll den Flur entlang, den er hinausschaffen möchte. Er blickt auf, und da weiß ich sofort, dass er nicht wie ich ist. Ich muss ihn töten.
»Wer zum Teufel sind Sie denn …?«, setzt er an. Ich werfe mich auf ihn, packe ihn an seinem dünnen Hals und stoße ihn weiter in das Haus hinein. Wir stolpern in die schmutzige Küche, wo ich ihn gegen einen Schrank werfe. Durch die Wucht des Aufpralls wird er wieder nach vorn geschleudert. Er wehrt sich und kämpft gegen mich an, aber ich weiß, dass ich ihn töten kann. Kraft,
Schnelligkeit und Überraschungsmoment sind auf meiner Seite. Ich drücke ihm eine Hand auf das Gesicht und schlage seinen Kopf gegen die Schranktür. Er wehrt sich immer noch. Ich ziehe seinen Kopf zu mir und schlage ihn noch mal gegen die Tür, fester. Und noch einmal. Erneut, und noch fester, so fest, dass ich etwas brechen höre – ich bin nicht sicher, ob es die Tür oder
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