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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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für gestern rechnen wir mit zweihundert Millionen Pfund. Sollzinsen und die immensen Kosten für Abklärungen nicht eingerechnet. Heute sieht’s noch schlimmer aus. Meine Leute können so nicht arbeiten, und das Budget ist jetzt schon Makulatur. Wenn es noch ein paar Tage so weitergeht, bricht die Bank zusammen. ›Lehman Brothers‹ war ein Klacks dagegen.«
    Der Chief Risk Officer nickte heftig und doppelte nach, als hätte nicht jeder am Tisch den Ernst der Lage längst begriffen. Wie erwartet ruhten alle Blicke auf Don. Insgeheim bereitete ihm ›Admiral‹ Nelsons plötzliche Erkenntnis der zentralen Bedeutung der IT große Freude, aber er hütete sich, sie allzu offen zu zeigen. Empathie war jetzt gefragt, um die Situation zu entschärfen. Er antwortete deshalb mit besorgter Miene auf die unausgesprochene Frage: »Die Lage ist unerträglich. Keiner versteht das besser als ich. Leider habe ich noch mehr schlechte Nachrichten. Meine Leute haben inzwischen alle Systeme eingehend überprüft. Sie arbeiten einwandfrei.«
    Tim und andere Manager von der Front wurden unruhig. Er wartete, bis der Wink des CEO ihre giftigen Kommentare unterband. »Die Ursache der Probleme liegt definitiv nicht bei uns«, fuhr er ungerührt fort. »Wir haben inzwischen die Bestätigung von Brüssel und andern Banken, dass neunzig Prozent des SWIFT-Netzes ausgefallen sind. Fallback-Szenarien über alternative Pfade und Rechner greifen nicht. Bis jetzt scheint man die Ursache der katastrophalen Panne nicht gefunden zu haben. Brüssel versicherte mir, dass ihre Techniker rund um die Uhr arbeiten.«
    »Und das war’s jetzt?«, rief Tim außer sich.
    Don blieb ruhig. »Tut mir leid. Wir können das SWIFT-Problem nicht lösen.« Er konnte sich nicht vorstellen, dass ein solcher, noch nie dagewesener Totalausfall des weltweiten Netzes lange dauern würde, aber laut darüber spekulieren durfte er nicht. Für ihn war der Fall klar: sie konnten im Wesentlichen nur auf bessere Zeiten warten. In der Zwischenzeit würde er versuchen, Punkte zu sammeln, indem er seine Programmierer und Organisatorinnen dort für die Entwicklung von Umgehungslösungen einsetzte, wo mit geringstem Aufwand die meisten Lorbeeren zu ernten waren. Jeder in der Organisation lebte nach diesem Prinzip. Am Ende der Sitzung blieb vieles unklar, nur eines war sicher: was der CEO dem Verwaltungsrat zu berichten hatte, würde den Damen und Herren nicht gefallen. Die Investmentbank der ›GLT‹ blieb bis auf weiteres geschlossen.
    Zehn Stockwerke tiefer auf der Liverpool Street bremste ein Bus so abrupt, dass Passagiere aufeinanderprallten und zu Boden stürzten. Der Fahrer kurbelte das Seitenfenster herunter und verwünschte die Frau lauthals, die er beinahe gerammt hätte. Sie ging unbekümmert weiter, traumwandlerisch, als schwebte sie in Zeitlupe über die Straße. Sie schaute weder links noch rechts, lebte in ihrer eigenen Welt, wo keine Autos mit quietschenden Reifen zum Stillstand kamen, keine Stoßstangen aufeinanderprallten, keine wildfremden Leute sie beschimpften und verfluchten. Hannah Gottdank ging unbekümmert auf geradem Weg zum Zeitungskiosk. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, erinnerte sich nicht, wie sie hierhergekommen, noch was sie auf der anderen Straßenseite gewollt hatte. Am Kiosk blieb sie stehen, studierte die Schlagzeilen. Ein Dutzend Stile, ein Thema. Von der ›Financial Times‹ zur ›Sun‹ beherrschte das Geschehen auf den Finanzmärkten die Titelseiten aller Zeitungen, auch der ausländischen, soweit sie feststellen konnte.
     
    Zahlungsverkehr akut gefährdet. Liquiditätskrise droht.
    Der stille Crash.
    Sind die Banken zahlungsunfähig?
    BANKEN-GAU!
     
    Sie las die fetten schwarzen Wörter immer wieder, ohne sich betroffen zu fühlen. Ihr Hirn war leer. So sehr sie sich anstrengte, sie erinnerte sich nicht, woher sie kam. Wie beim Erwachen aus einem Traum. Man weiß, dass man geträumt hat, nur die Bilder, die sind verschwunden. Träumen, schlafen, sie wollte nur noch schlafen. Es musste eine Ewigkeit her sein, seit sie das letzte Mal geschlafen hatte. Sie wäre wohl auf der Stelle zu Boden gesunken und eingeschlafen, hätte sie nicht eine Polizistin daran gehindert. Die Uniformierte sprach ins Funkgerät. Kurze Zeit später fuhren zwei Beamte die verwirrte Leiterin des Backoffice der ›Global Trust Bank‹ ins nahe ›Saint Bartholomew's‹ Hospital.
    La Hulpe Bei Brüssel, Zweiter Tag      
     
    Es begann zu nieseln, als Dave

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