Im Westen geht die Sonne unter
seiner gebeugten Haltung, in der er die Papierfetzen auf dem Schreibtisch kontrollierte. Die Pendenzenberge des Vortages waren etwas geschwunden. Das gab ihr Hoffnung. »Hat sich der Knopf mit der «Deutschen Bank‹ gelöst?«, fragte sie leise, als sie hinzutrat. Es war das letzte Problem vor ihrem Blackout, woran sie sich erinnerte.
»Die arroganten Krauts«, schimpfte das Männchen, ohne aufzusehen.
»Das sind ja ganz neue Töne.«
Er zeigte auf die ausgebreitete Korrespondenz. »Sieh selbst. Das sind unsere Überweisungen und hier ihre Reklamationen. Ich sage dir, die Deutschen haben ihren Laden noch weniger im Griff als wir, und das will etwas heißen.«
Sie betrachtete die Faxe und Computerausdrucke eingehend. Was sie befürchtet hatte, war also bereits eingetreten. Das Chaos im Zahlungsverkehr führte dazu, dass die Banken begannen, einander zu misstrauen. Die Unsicherheit nahm zu. Die Gefahr, dass am Ende kein Institut mehr mit absoluter Gewissheit belegen konnte, welche Zahlungen erfolgt waren, wo es welche Guthaben und Schulden hatte, war nicht mehr von der Hand zu weisen. Geld bestand schließlich nur aus Zahlen auf Computer-Festplatten. Was nützten die Aufzeichnungen in den eigenen Büchern, wenn die Records der Gegenparteien etwas ganz anderes behaupteten? Währungsbestände auf den Konti waren nur elektronisch gespeicherte Bits, Aufzeichnungen, denen man vertraute, oder eben nicht. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, wie schnell dieses Vertrauen verloren gehen könnte und was dann geschehen würde.
»Mit den Zahlungen an Dritte ist es noch schlimmer«, murmelte der Gruppenleiter. »Da kämpfen wir an zwei Fronten. Die Anrufe von ›Wiesenthal‹ und ›De Gruyter‹ hättest du dir anhören müssen. Der Ton der Firmenkunden wird mit jeder Stunde gehässiger.«
»Cool bleiben. Wir tun was wir können.«
»Sage ich auch jedem.«
Sein Telefon schrillte. Mit einem stillen Seufzer hob er ab. Sie ging zur nächsten Gruppe, der sie Verstärkung aus Dons Organisationsabteilung besorgt hatte. Zur Unterstützung bei Routinearbeiten. Das Problem war nur: Es gab keine Routine mehr, fast nur noch Sonderfälle und Spezialwünsche, welche die unfreiwilligen Azubis heillos überforderten. Als sie sah, dass ihre Mitarbeiter auch an diesen Tischen wieder ruhiger arbeiteten, bedeutete sie der Verantwortlichen diskret, die IT-Leute nach Hause zu schicken. »In spätestens einer Stunde will ich auch euch nicht mehr sehen«, fügte sie ernst hinzu. Ihre Mannschaft brauchte Ruhe, musste neue Kraft schöpfen, verspätete und falsche Zahlungen hin oder her. Sie wusste, wovon sie sprach.
Nach einer letzten Krisensitzung um zehn Uhr abends trat auch sie wieder ins Freie. Die kühle Nachtluft auf dem kurzen Weg zur Tube unter der Liverpool Street Station erfrischte sie nicht nur, sie gab ihr neue Zuversicht. Nach der langen Fahrt, beim Leeren ihres Briefkastens, glaubte sie schon beinahe an ein besseres Morgen. Sie hörte das Telefon in ihrer Wohnung schon unten an der Treppe im Hausflur. Ein Anruf aufs Haustelefon zu dieser Stunde, nicht gut. »Nur nicht Ethel«, murmelte sie alarmiert, hastete die Treppe hinauf und hob ab, bevor der Anrufer aufgab. Don war am Apparat.
»Hannah, verdammt noch mal, ich versuche dich schon seit einer halben Stunde zu erreichen. Hast du das Handy ausgeschaltet?«
Hatte sie, auf der Fahrt. Ein paar Minuten nicht erreichbar sein, diesen Luxus erlaubte sie sich jeden Abend. »Jetzt hast du mich ja erwischt«, antwortete sie, während sie sich geistig auf den nächsten Tiefschlag vorbereitete. »Was gibt’s?«
»SWIFT ist ›up and running‹!«, rief er freudig.
Sie konnte sich sein glänzend rotes Gesicht vorstellen. Für einmal freute sie sich mit ihrem Kollegen von der IT, als sie begriff, was er eben gesagt hatte. »Das ist nicht wahr«, wisperte sie tonlos.
»Ohne Scheiß. Die Meldungen gehen wieder raus, die Queues bauen sich ab. Ich sage dir: es läuft fast wieder normal. Dachte, du wolltest die Gutenachtgeschichte hören, bevor du dich aufs Ohr legst.«
»Danke«, sagte sie nur.
Sie spürte eine plötzliche Bettschwere, war zu müde, sich richtig zu freuen. Aber sie schlief einen traumlosen Tiefschlaf wie schon lange nicht mehr.
Dank Dons guter Nachricht fuhr sie am nächsten Morgen erst zur gewohnten Zeit ins Büro. Um halb acht betrat sie mit den meisten ihrer Leute die Bank. Die großartige Neuigkeit hatte sich schon herumgesprochen. Die bedrückte Stimmung wich
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