Im Westen geht die Sonne unter
Chef zerknüllte den leeren Kaffeebecher ärgerlich und sprach aus, was alle dachten: »Mit andern Worten: wir sind mit unserer Weisheit am Ende. Vorschläge?«
»Austauschen«, murmelte der Techniker.
Der Chef musterte ihn misstrauisch. »Ist das dein Ernst? Funktionierende Komponenten ohne den geringsten Verdacht austauschen? Die Mühe können wir uns sparen.«
»Er hat recht«, meinte Dave. »Die Diagnostik zeigt möglicherweise nicht alle Probleme. Ich würde bei den zentralen Routern in einem der Rechenzentren beginnen. Einfach mal Ersatzplatinen einsetzen. Wir haben genügend davon – und was können wir verlieren?«
Sein Vorschlag war nichts weiter als Ausdruck reiner Ratlosigkeit. Dennoch, oder vielleicht deshalb, erhitzte sich die Diskussion über die Aktion, an deren Erfolg niemand glaubte. Mangels besserer Alternativen einigte man sich darauf, den Versuch am Routerkomplex ›A-01.350‹ im Rechenzentrum Zoeterwoude bei Leiden zu wagen. Der Ausnahmezustand nach dem Weltuntergang hatte seine guten Seiten. Der Chef konnte den Eingriff in den laufenden Betrieb eines Rechenzentrums mit ein paar Telefonaten und einer e-Mail auslösen. Ein Eingriff, der normalerweise lange vorbereitet und durch mehrere Instanzen in einem komplexen Verfahren genehmigt werden musste.
Der Netzwerkknoten mit der Bezeichnung ›A-01.350‹ färbte sich exakt fünfundfünfzig Minuten nach Ende der Sitzung grün. Noch vor dem Anruf aus Holland wussten alle im Überwachungszentrum, dass der Meldungsverkehr über diesen Knoten wieder zu fließen begann. Nach und nach färbten sich Pfade zu Endknoten in europäischen Banken grün. Wenige nur, aber diese Pfade blieben offen. Mit jeder grünen Linie wurde der Jubel lauter. Einzelne Techniker trommelten ekstatisch auf die Tische, andere tanzten den angestauten Frust in wilden Veitstänzen aus dem Leib. Die Nachricht vom Erfolg raste mit Lichtgeschwindigkeit um die Welt. In Windeseile ersetzten die Techniker Komponenten zentraler Übermittlungsrechner an allen drei Standorten. Weitere Knoten und Pfade änderten ihre Farbe. Allmählich kehrte das Bild des filigranen Netzes zum beruhigenden Grau und Grün des Normalbetriebs zurück.
Plötzlich stand ein Kasten ›Hoegaarden‹ auf einem der Tische. Kronkorken schepperten zu Boden, Glas prallte auf Glas und das kühle Weiße perlte durch die trockenen Kehlen. Der hopfige Geschmack des Biers erinnerte Dave daran, dass er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte. Es war Zeit, Feierabend zu machen. Allein, Freude wollte bei ihm nicht aufkommen. Der Erfolg dieser Austauschaktion machte einfach keinen Sinn. Warum sollten plötzlich alle Platinen in den Routern ausfallen? Platinen, die sie erst vor drei Wochen nach intensiven Tests neu eingesetzt hatten? Und warum sollten alle Ersatzplatinen aus der gleichen Lieferung das Problem mit einem Schlag beheben? Nein, so etwas war einfach nicht logisch.
Kapitel 11
Broadgate, London, Abend Des Zweiten Tages
Die letzten Strahlen der tief stehenden Sonne spiegelten sich in den Fenstern, als Hannah die Bank durch den wenig benutzten Nebeneingang betrat. Sie wollte möglichst unauffällig an den Ort zurückkehren, wo man sie jetzt dringend brauchte. Im Spital hatten sie eine Unterzuckerung festgestellt, und daran klammerte sie sich jetzt. Nur ein vorübergehendes chemisches Problem, keine geistige Verwirrung, redete sie sich immer wieder ein. Nach etwas Ruhe am Tropf und einem langen Gespräch mit der kleinen Ethel und ihrem Ex sah sie keinen Grund mehr, ihre Zeit noch länger im Spitalbett zu vertrödeln. Sie zog die Nadel aus ihrem Arm und entließ sich selbst.
Sie holte tief Atem, bevor sie die Tür zu ihrer Abteilung aufstieß. Wie erwartet, waren die meisten Arbeitsplätze noch immer besetzt zu dieser späten Stunde, die sonst den Putzequipen gehörte.
»Hannah, Gott sei Dank. Wo hast du gesteckt? Wir haben uns Sorgen gemacht«, begrüßte sie die erste Kollegin, die sie erblickte.
Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Die Mannschaft hatte nichts von ihrem Kollaps mitbekommen, und das war gut so. »Kein Grund zur Sorge«, lächelte sie. »Wie kommt ihr voran mit den manuellen Zahlungen?«
»Mühsam, aber langsam gewöhnen wir uns daran. Zum Glück gibt’s noch Telefone und Faxe.«
In der Mitte des Raums befanden sich die Tische der für Abklärungen und Spezialfälle zuständigen Mitarbeiter. Der kleine, dürre Chef der Gruppe schien noch weiter geschrumpft zu sein. Vielleicht lag es an
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