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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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schnell der gesunden Hektik eines ganz normalen Arbeitstages. Beinahe normal, wie sie die Gruppe der Abklärer rasch belehrte. Der Pendenzenberg beim dürren Chef wuchs wieder.
    »Ist ja schön und gut, dass SWIFT wieder läuft«, meinte er zwischen zwei Anrufen. »Aber jetzt kommen natürlich Doppelzahlungen rein.«
    Sie nickte. »War nicht zu vermeiden.« Sobald man zu stark in die normalen Abläufe eingreifen musste, gab es Doppelspurigkeiten. Eine dringende Überweisung wurde via Fax avisiert, obwohl die entsprechende SWIFT-Meldung schon in der Warteschlange steckte. Nun funktionierte das System wieder, übermittelte die Meldung endlich und löste die Zahlung im empfangenden System gleich nochmals aus. Das passierte auch im Normalbetrieb manchmal, aber jetzt häuften sich diese Fälle. Es würde noch einige Tage dauern, bis sich die Situation auch an diesen Schreibtischen wieder beruhigte.
    Die Acht-Uhr-Sitzung der Abteilungsleiter verlief schon fast harmonisch. Man hörte förmlich, wie alle Betroffenen aufatmeten. Noch leckten sich die Mitarbeiter überall in der Bank die Wunden, noch glichen viele Bereiche einem Schlachtfeld, auf dem zuerst die Trümmer weggeräumt werden mussten, aber das Gröbste war überstanden. In ein paar Tagen würden die Leute am Wasserkühler und in der Cafeteria über die ersten Witze zum Beinahe-Weltuntergang lachen. Die Besprechung war schnell zu Ende. Viel Arbeit wartete. Sie freute sich darauf, und aufs Wiedersehen mit ihrer Tochter.
    Der Anblick ihres gut eingespielten Teams bei der gewohnten Arbeit wärmte ihr Herz. Sie hatte ihr Leben, so wie sie es liebte, zurück erhalten. Der Blick auf eine Blumenwiese im weichen Licht des Frühlings hätte nicht beruhigender sein können.
    Um 08:29 Uhr bekam das pastorale Gemälde vor der Glaswand ihres Büros erste Risse. Sie schaute automatisch auf die Uhr auf ihrem Bildschirm, als sie die aufgeregten Handzeichen gleichzeitig bei der Nostro-Dispo und den Abwicklungsterminals bemerkte. Dann begannen die Telefone zu schrillen. Auch ihr Apparat klingelte Sturm, doch sie ignorierte ihn. Im Nu stand sie bei ihren Mitarbeitern.
    »Es geht wieder los«, rief jemand.
    Andere erstaunte, enttäuschte und verärgerte Rufe stimmten in die Klage ein. Hannah lief es kalt über den Rücken. Sie hatte genau dies schon einmal erlebt, vor zwei Tagen. Sie wusste, dass der Albtraum sie eingeholt hatte, noch bevor man ihr die Fehlermeldungen der SWIFT-Überwachung zeigte. Alles umsonst, schoss ihr durch den Kopf. Umsonst hatten die Abklärer Tag und Nacht gearbeitet, ihre Pendenzen abgebaut, um zum Normalbetrieb zurückzukehren. Es gab keinen Normalbetrieb. Die Lebensader des Finanzsystems war wieder verstopft oder endgültig gerissen. Ihr Supertanker sank unaufhaltsam weiter, und es gab kein Rettungsboot.
     
    La Hulpe Bei Brüssel, Belgien, Dritter Tag      
     
    Dave warf die zweite Pille ein und spülte sie mit wenig Wasser hinunter. Es waren die stärksten Schmerzmittel, die er ohne Rezept bekommen konnte und die einzigen, die wirkten. Normalerweise. An diesem Morgen schien die hohe Konzentration Salizylsäure seinen Brummschädel nicht zu beeindrucken. Eine mehr oder weniger unfreiwillig durchzechte Nacht plus Wetterumschlag – das sichere Rezept für einen Scheißtag. Aber es kam noch schlimmer. Er schob die dunkle Brille kurz hoch, um zu sehen, was auf dem Bildschirm vor sich ging. 09:05 Uhr MEZ, 08:05 GMT. Der erste Knoten im SWIFT-Netz färbte sich rot. Er schloss die Augen, öffnete sie langsam wieder, um bewusst auszuschließen, dass er träumte. Die rote Seuche begann sich auszubreiten, als tropfte Blut auf den Bildschirm. Und jeder Tropfen sandte einen stechenden Schmerz durch sein Nervensystem.
    Er hatte genug gesehen. Die Brille fiel wieder auf seine Nase. Er hielt sich die Ohren zu, um die kollektiven Seufzer und Flüche seiner Kollegen nicht anhören zu müssen. Ein neuer Tag, eine neue Katastrophe. Der zweite Zusammenbruch des Netzes überraschte offenbar alle, außer ihn. Während er unsicher zur Toilette wankte, überkam ihn beinahe eine gewisse Befriedigung, hatte er doch dem Fix gestern Abend von Anfang an nicht getraut. Er hatte gewusst, dass die Lösung keinen Sinn machte. Es konnte nicht lange gut gehen. Aber eine Bombe, die jeden Morgen um neun aufs Neue detonierte, war noch absurder. Zurück auf Feld eins. Sie standen wieder am Anfang. Ahnungslos mussten sie zusehen, wie das globale System an die Wand fuhr. Krisensitzungen,

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