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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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ganze geistige Abwehr mobilisieren, um nicht wieder zu explodieren. Mit der Zeit gelang es ihm, die unverschämten Fragen fast emotionslos zu beantworten. Eine geschlagene Stunde dauerte die Folter. Als der Commissaire die Befragung mit dem netten Satz »Sie dürfen jetzt gehen« beendete, huschte etwas wie ein Lächeln über das Gesicht der Blondine, und seine Kopfschmerzen hatten sich aus dem Staub gemacht.
    Auf dem Weg zurück an seinen Arbeitsplatz überlegte er sich, was die beiden aus seinen Antworten lesen würden. Zu befürchten hatte er nichts. Sein Gewissen war rein, und er lebte in einem Rechtsstaat. Was konnte ihm schon passieren? So einfach war seine Welt bisher gewesen. Der Überwachungsmonitor zeigte wieder das grauenhafte Bild des blutenden Netzwerks. Ein Schlachtfeld wie am ersten Tag der Krise. Der Zustand veränderte sich nicht mehr. Das SWIFT-Netz war endgültig tot. Insofern hatte er nichts versäumt während der Befragung. Wie aus dem Nichts stand plötzlich sein Chef neben ihm. Er klopfte ihm auf die Schulter und brummte:
    »Mach dir nichts draus. Es geht allen so. Das Topmanagement rotiert, lässt alle Mitarbeiter befragen. Die sind überzeugt, es sei das Werk von Insidern.«
    Eine Legion Beamter musste unterwegs sein, um die über zweitausend Angestellten auszuquetschen. »Die werden eine Menge Papier produzieren«, meinte er.
    »Den Grund für das Desaster werden die sicher nicht finden«, stimmte der Chef zu.
    Nein, das würden sie nicht. Etwas, das er während der Befragung gesagt oder gehört hatte, beschäftigte sein Unterbewusstsein. Trotz aller Anstrengung fand er nicht heraus, was es war. Wichtig war es, das wusste er.
     
    Eccles Building, Washington DC, Dritter Tag
     
    Dr. Grace E. Thompson glaubte nicht mehr an den Erfolg der Sitzung, als sie den Thronsaal des Fed betrat. In zahllosen Telefonaten hatte sie versucht, ihre Partner in den G8-Staaten, die wirklich zählten, zu einem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen, um die Krise zu bewältigen. Krise, was für ein abgedroschener Begriff für eine Situation, die nur noch mit dem Einschlag des Meteoriten vergleichbar war, der die Dinosaurier auslöschte. Die meisten Menschen hatten den Einschlag noch nicht bemerkt. Die schwarze Wolke, die fast alles Leben auslöschte, waberte erst im Innern der Banken, an den Regierungssitzen und hier im Eccles Building. Höchstens zwei Wochen würde es dauern, bis die Frau und der Mann auf der Straße begriffen, was die Schlagzeilen der Zeitungen bedeuteten. Dann wäre nicht mehr nur die Geldmenge M3 mit den für die Finanzwirtschaft lebenswichtigen Anlagen und Termingeldern kaum mehr kontrollierbar. Auch die Spareinlagen der M2, ja gar die M1, das Konto des kleinen Mannes, wären akut gefährdet, wenn Panik ausbräche. Wie eine gewaltige Lawine, durch nichts aufzuhalten, würden die Leute ihre Bankeinlagen plündern. In Panik würden sie versuchen, den Wertzerfall ihres Geldes zu stoppen, Sachwerte zu kaufen, Gold, solange ihnen noch jemand ihre Dollars abkaufte. Die Gefahr, dass nicht nur die Profis, sondern auch die Masse der Bevölkerung das Vertrauen ins Papiergeld in ihrer Tasche und auf den Bankkonti verlieren könnten, war real. Was viele nicht wussten, mussten sie jetzt schmerzhaft erleben. Auch das Geld auf ihren Lohn- und Sparkonti war nur eine Zahl in einem Computerspeicher. Die Banken arbeiteten täglich mit diesem ›Bodensatz‹, wie sie diese Bestände nannten. Das Geld wurde über Nacht oder kurzfristig ausgeliehen, um Zinsen zu erwirtschaften. Milliardenbeträge wechselten in Form von kurzen SWIFT-Meldungen täglich die Hand. Das SWIFT-Netz war die Lebensader des Finanzsystems, und die existierte nicht mehr. Brauchbare Alternativen gab es nicht, jedenfalls nicht kurzfristig.
    Spätestens wenn die Importe unbezahlbar würden, wenn die selbstverständliche Versorgung mit Krediten und Konsumgütern zusammenbrechen würde, müssten auch die letzten Betonköpfe auf dem Capitol Hill begreifen: die Stabilität im Land war in höchstem Maße gefährdet. Niemand wusste das besser als sie. Niemals hätte sie sich träumen lassen, dass sie den Tag erleben würde, an dem sogar die Geldmenge M1, die Liquidität per se, einfrieren würde, einfach weil die Leute im In- und Ausland das Vertrauen in die Währung und die Banken verloren.
    Grace wusste, dass die Vertreter der anderen Staaten mit den gleichen Problemen kämpften. Deshalb würde jeder auf seine Weise versuchen, den Kopf aus der Schlinge zu

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