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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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schwach. Er drehte den Hahn zu, schob die Tür zurück und erstarrte. Wie eine sündige Erscheinung aus einem feuchten Traum stand sie vor ihm. Den Bademantel hatte sie elegant über den Hocker geworfen. Lächelnd streichelte sie seinen harten John und sagte:
    »Zieh dich an, es gibt Arbeit.« Damit schlüpfte sie an ihm vorbei in die Dusche. Bevor sie das Wasser aufdrehte, fügte sie beruhigend hinzu: »Keine Sorge, ich komme gleich.«
    Er erwachte erst richtig, als er angezogen war und sein Smartphone einstecken wollte, das sie artig vom Boden aufgehoben und auf den Schreibtisch gelegt hatte. Die Fehlermeldung war verschwunden und die Fliege saß auf dem Display, als hätte sie schon ewig dort gewartet. »Da ist sie ja«, rief er entzückt.
    »Eben.«
    Er fuhr herum. Sie stand unschlüssig in BH und Höschen vor dem Kleiderschrank. War es denn so schwierig, sich für eine Garderobe zu entscheiden?
    »Du solltest dich auf dein Display konzentrieren«, meinte sie, ohne sich umzudrehen. Sie hatte auch hinten Augen.
    Er riss sich vom gefährlichen Anblick los, um sich auf Emmas eigenwilligen Spion zu konzentrieren. Wahrscheinlich hatte sich die Fliege in seinen Kleidern verfangen, als sie dem Rückrufsignal des Handys folgte. Das Kontrollprogramm hatte sich verabschiedet. Seine Fehlerbehandlung war verbesserungsfähig, aber nach dem Restart nahm es sofort Verbindung zur Fliege auf und zeigte die Datei, die der kleine Spion auf seinem Ausflug in die Bank erzeugt hatte. Sie war erstaunlich klein für ein Video. Er tippte das File an, das Fenster mit dem Film öffnete sich. Ein Blick auf die Informationsleiste zerstreute seine Zweifel. Die Aufnahme dauerte eine volle Stunde. Nach dem ersten Überfliegen der Aufzeichnung verstand er, weshalb die Datei so klein war. Das Bild veränderte sich über weite Strecken kaum, der Film war nicht viel mehr als eine reine Tonaufnahme. Er hörte sie probeweise an verschiedenen Stellen ab und staunte über die Qualität. Die Physiker und Ingenieure des Imperial College hatten die Elektronik offensichtlich für Sprachaufzeichnungen optimiert. Das Resultat hörte sich an wie die kristallklare Aufnahme eines klassischen Telefonspions.
    Alex hatte ihr Kleiderproblem gelöst. Sie setzte sich neben ihn, griff zu Notizblock und Bleistift neben dem Telefon und meinte: »Es kann losgehen.«
    Erste, von Straßengeräuschen unterbrochene chinesische Wortfetzen tönten aus dem Lautsprecher des Handys. Er warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie schüttelte den Kopf. Die Aufzeichnung lief weiter. Er brauchte nicht lange zu warten, bis auch er verstand, was gesprochen wurde. Der Banker begrüßte Li auf Englisch. Dann hörte er Schritte. Eine Tür schlug zu, Sesselrücken, Tassen klapperten. Der Banker eröffnete das Gespräch mit einer Entschuldigung:
    »Mr. Li, ich bedaure sehr, Ihnen keine bessere Auskunft geben zu können. Wir leiden immer noch unter der SWIFT-Blockade. Die Leitung der Bank entschuldigt sich in aller Form für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen dadurch verursacht werden. Glauben Sie mir, wir unternehmen alles, um ...«
    »Ah, Mr. Bauer«, unterbrach der Chinese. »Keine Sorgen machen. Wir kennen das SWIFT-Problem. Wir wissen, alle Banken sind betroffen. Es ist schlimm, aber es sind ja keine großen Zahlungen, nicht wahr?« Er kicherte. Die Bemerkung schien ihn außerordentlich zu amüsieren.
    »Wiederholen«, verlangte Alex.
    Er stoppte die Wiedergabe. »Der Banker heißt Bauer«, schmunzelte er. Sie schrieb den Namen auf, und er ließ das Gespräch weiterlaufen.
    »Sie haben recht, Mr. Li«, antwortete Bauer. »Es ist furchtbar. Der Zahlungsverkehr steht praktisch still. Der Handel ebenso. Der Dollar erholt sich nicht mehr, die Kundenaufträge bleiben hängen und wir sind völlig machtlos dagegen. «
    »Ah, der Dollar. Da haben Sie recht. Er wird sich nicht erholen. Die Zeiten ändern sich schneller als man denkt. Habe ich es Ihnen nicht vorausgesagt?«
    »Sie sind ein Hellseher, Mr. Li.« Kichern. »Und Sie haben uns eine Menge Ärger erspart. Wie schaffen Sie es, jedes Mal das perfekte Timing zu erwischen? Verraten Sie mir Ihr Geheimnis?«
    »Glück, Mr. Bauer«, lachte Li. »Das Jahr der Schlange bringt mir Glück.«
    »Ich glaube eher, es hat etwas mit Weisheit zu tun, Mr. Li.«
    »Schleimer«, meckerte Alex. »Das geht wohl noch lange so weiter. Chinesische Tradition.«
    Die Befürchtung war umsonst. Li und Bauer beendeten den unverbindlichen Austausch von Höflichkeiten

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