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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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für unsichere Anfänger gedacht, nicht zu vergleichen mit seinen professionellen Surfbrettern zu Hause. Besser als gar nichts. Aufriggen und Segel trimmen erledigten seine Hände automatisch. Dazu brauchte er nur das Kleinhirn, wie für das Lösen linearer Differentialgleichungen. Er wasserte Segel und Brett, klinkte den Mastfuß an die Platte und stieg auf das Board. Mit wenigen Zügen an der Startschot holte er das Segel auf, drehte am Gabelbaum, bis er Druck im Segel spürte und fuhr in schnellem Zickzack aufs Meer hinaus. Bald waren die wenigen Spaziergänger am Strand nur noch dunkle Punkte. Der Wind nahm zu. Hier draußen brauchte er Kraft und volle Konzentration, um Gleichgewicht und Rhythmus für seine eleganten Figuren nicht zu verlieren. Vor der Mündung des Alvor in die Bucht zog er den Mast zu sich, um vom Wind abzufallen, wendete und kreuzte dann lange gegen den Wind nach Westen. Die rasende Schussfahrt parallel zur Küste sparte er sich bis zuletzt auf. Später am Tag wäre ein solches Manöver am belebten Strand nicht mehr möglich, das hatte er schnell gelernt. Genussvoll sog er die frische, salzige Luft ein. Der Wind trieb das Brett fast widerstandslos über das Wasser. Er fühlte sich frei und leicht wie die Möwen, die schwerelos über die Wellen segelten. Die Zeit schien stillzustehen, bis ein Blick ans Ufer die schöne Illusion zerstörte. Der weiße Sandstrand begann sich zu beleben. Die Horden der Sonnenbadenden schwärmten aus wie hungrige Ameisen auf Nahrungssuche. Er musste schon zwei Stunden auf dem Wasser sein. Höchste Zeit, seinen Alleingang zu beenden und sich bei Jessie angemessen zu entschuldigen.
    Nur mit den Badehosen bekleidet trat er durch den Seiteneingang des Hotels und ging zum Strandlift, ohne einen Blick auf die andern Gäste zu werfen. Ungeduldig wartete er auf den Aufzug, als ihn plötzlich eine bekannte Stimme ansprach:
    »Tolle Farbe.«
    Er drehte sich erschrocken um. Die Journalistin des ›Wall Street Journal‹ war kaum wiederzuerkennen. Seine forsche süße Maus hatte sich in einen gefährlichen Vamp verwandelt. Anstatt Hosen trug sie ein rotes Minikleidchen mit frechen Spaghettiträgern. Ihre Füße steckten in schwarz glänzenden Stilett-Sandaletten. Der große Zeh glänzte im selben Rot wie der Stoff, und auf dem Kopf saß ein Strohhut mit breiter Krempe und kecker Seidenschleife. Die unerwartete Erscheinung verblüffte ihn so sehr, dass er sie erst sprachlos anstarrte, bevor ihm die passende Antwort einfiel:
    »Meinen Sie den Slip oder die rote Haut?«
    »Beides«, lachte sie.
    Irrte er sich, oder hörte es sich an, als wollte sie ihre Verlegenheit verbergen? Er musterte sie neugierig und murmelte: »Solche Zufälle gibt es nicht.«
    »Nein«, stimmte sie ernst zu. »Wir müssen reden.«
    »Müssen wir? Vielleicht haben Sie bemerkt, dass ich hier Ferien mache. Mit meiner Verlobten.«
    »Bitte«, flehte sie, und diesmal klang es wie ein Hilferuf.
    Hin- und hergerissen zwischen Ablehnung und einer seltsamen Faszination für diese geheimnisvolle Frau folgte er ihr auf die Terrasse. Sie setzten sich an einen Tisch im Schatten einer Kokospalme, abseits des Lärms der letzten Schicht am Büfett.
    »Ich entschuldige mich in aller Form für mein Eindringen«, begann sie, während sie ihn beinahe ängstlich musterte, als fürchtete sie, er würde aufspringen und davonrennen.
    Vielleicht sollte er genau das tun, dachte er einen Augenblick lang. Dann antwortete er: »Ich bin schon etwas überrascht, dass Sie mich bis hierher verfolgen. Wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«
    »Das werden Sie verstehen, nachdem Sie meine Geschichte gehört haben.«
    »Ihre Geschichte«, wiederholte er mit verlegenem Lächeln. »Ich weiß nicht, ob ich die hören möchte, ehrlich gesagt.«
    Ihre schneeweißen Zähne blitzten, als sie laut auflachte. Sie beugte sich über den Tisch, legte ihre Hand auf seine, bevor er sie wegziehen konnte, und beruhigte mit dunkler Stimme: »Keine Angst, ich werde Sie nicht in mein ödes Privatleben hineinziehen. Es ist eine rein berufliche Geschichte.«
    »Gott sei Dank«, meinte er, ehrlich erleichtert, und nahm schnell die Hände vom Tisch.
    »Vielleicht – sollten Sie mir zuerst Ihre Neuigkeiten erzählen«, fuhr sie zögernd fort.
    »Neuigkeiten?«
    »Sie haben auf meine Mailbox gesprochen.«
    »Ach so, das.«
    Seit dem letzten Tag im Institut war soviel geschehen, dass er keine Minute mehr an das überraschende Ergebnis der Modellrechnung gedacht

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