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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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mehr werden. Jessies Kleider waren verschwunden, ihr Koffer ebenso. Kein Scherz. Noch während er sich anzog, versuchte er sie übers Handy zu erreichen, doch es kam keine Verbindung zustande. Konsequent.
    »Ryan, du bist ein Idiot«, schimpfte er laut. So etwas konnte nur ihm passieren. Er wusste längst, wie empfindlich Jessie reagieren konnte, und trotzdem hatte er sie leichtfertig provoziert. Er war so wütend über sich selbst, dass er die nächsten Sekunden damit verbrachte, ein stärkeres Wort als Idiot zu finden. Nicht einmal das gelang ihm. Der Idiot konnte offenbar auch nicht mehr klar denken. Kaum hatte er sich etwas beruhigt, rief er die Rezeption an und stellte die peinliche Frage nach dem Verbleib seiner Verlobten. Wie befürchtet, hatte niemand sie bemerkt. Auch Concierge und Hotelpage konnten sich nicht erinnern. Kurz entschlossen eilte er zum Haupteingang hinunter und hielt dem Türsteher Jessies Foto unter die Nase.
    »Haben Sie zufällig diese Frau vor kurzem abreisen sehen?«
    »Tut mir leid, Sir. Ich habe meinen Dienst eben erst angetreten.«
    Der Mann winkte seinen Kollegen herbei und stellte ihm die Frage.
    Nach einem kurzen Blick auf das Bild nickte der andere. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie den Shuttle zum Flughafen genommen hat.«
    Ryan unterdrückte einen Fluch und fragte gepresst: »Wann war das?«
    »Vor einer Stunde, Sir.«
    »Eine Stunde«, brummte er zerknirscht. Also war sie jetzt am Flughafen. Bis er dort eintreffen würde, könnte sie schon in der Luft sein, falls sie einen passenden Flug fand.
    »Ich kann Sie hinfahren«, sagte Alex ruhig hinter ihm.
    Er fuhr herum und starrte sie an wie ein Phantom.
     
    Sein abrupter Abgang hatte ihr einen Stich ins Herz versetzt, als würde er sie verlassen. Sie traute seinem Versprechen nicht und beobachtete ihn heimlich. Auf keinen Fall durfte sie ihn nochmals aus den Augen verlieren. Sie sah zu, wie er den Brief öffnete. Auch wenn sie nicht wusste, was auf dem Zettel stand, sein Mienenspiel verriet genug über den Inhalt. Den Rest konnte sie sich leicht zusammenreimen. Nicht sie war die Verlassene. Jessie, die Zicke, hatte Ryan verlassen. Ganz leise versuchte das feine Stimmchen ihres Gewissens, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie war zu beschäftigt, dem nervösen Ryan auf den Fersen zu bleiben. Die Fahrt zum Flughafen war ihre Chance. Genügend Zeit, um in Ruhe zu reden.
    »Was ist?«, schmunzelte sie. »Kommen Sie, ich beiße nicht. Mein Mietwagen steht auf dem Parkplatz.«
    Wortlos folgte er ihr zum Wagen. Er saß zusammengesunken neben ihr. Ein Häuflein Elend, weit weg mit seinen Gedanken.
    »Es tut mir leid, das mit Jessie«, murmelte sie mitfühlend.
    »Muss Ihnen nicht leid tun. Ist allein meine Schuld. Ich hätte mich um sie kümmern müssen, statt ...«
    »Statt die Zeit mit mir zu verbringen.«
    »Ach, vergessen Sie’s.«
    »Meinen Sie, sie reist tatsächlich ab?«
    »Sie kennen Jessie nicht.«
    Nach dieser erhellenden Antwort hüllte er sich wieder in Schweigen. Lange saßen sie stumm nebeneinander. Draußen glitten die sanften Hügel des Küstenstreifens vorbei. Rote Erde, staubige Büsche, denen man den Durst von der Straße aus ansah. Keine vierundzwanzig Stunden war es her, dass sie die A22 in umgekehrter Richtung gefahren war, und doch erinnerte sie sich an kein einziges Detail der Landschaft. Auf der Anreise war sie zu beschäftigt gewesen, sich auf die Begegnung vorzubereiten. Nun kauerte er gebrochen neben ihr, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihr Anliegen auch nur ansprechen sollte. Erst kurz vor Faro erwachte er aus seiner Schreckstarre. Mit einem Ruck wandte er sich von der Straße ab und schaute sie mit großen Augen an.
    »Wie weit sind Sie mit meinem Artikel?«, wollte er wissen.
    »Das – ist Teil meiner Geschichte. Ich fürchte, der Artikel wird nie fertig.«
    »Wie denn das?«
    Sein verblüffter Gesichtsausdruck reizte sie unwillkürlich zu schmunzeln. »Ich arbeite nicht mehr beim ›Journal‹«, antwortete sie ohne Zögern.
    Er öffnete den Mund, wusste nicht, was er sagen sollte. Sprachlos schaute er sie an, schüttelte ungläubig den Kopf.
    »Seit vier Jahren nicht mehr«, fuhr sie ungerührt fort. Die Bombe war geplatzt, endlich. Die plötzliche Erleichterung ließ ihr Herz schneller schlagen. Anspannung und Enttäuschung waren mit einem Schlag vergessen. Ihre heikle Aufgabe erschien ihr auf einmal spielend leicht. Bevor er sich vom zweiten Schock erholte, deutete sie mit dem Kinn nach vorn

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