Im Westen geht die Sonne unter
hatte. Selbst die Familie seines Katers war nur noch eine schwache Erinnerung an ein früheres Leben. Er brauchte ein paar Sekunden, um seine Gedanken zu sammeln, dann sagte er:
»Die Lithium-Blase ist geplatzt.«
»Ich weiß.«
»Wie bitte?«
»Ich lese auch Zeitungen«, lächelte sie. »War es das, was Sie mir mitteilen wollten?«
»Nicht nur.« Warum sagte er das? Irgendetwas an ihr drängte ihn, weiterzusprechen. Vielleicht ihre großen, fragenden Augen. Im Geiste sah er wieder die verblüffende Grafik auf seinem Bildschirm und schlagartig erinnerte er sich daran, dass gigantische Umwälzungen auf den Finanzmärkten bevorstanden oder bereits im Gange waren. Die Märkte machten keine Pause, während er sich hier vergnügte. Vielleicht war es eine Art schlechtes Gewissen, dass er seinem bezaubernden Gegenüber nun ausführlich vom bevorstehenden Niedergang des Dollars, Euros und anderer Währungen und vom erwarteten, explosionsartigen Anstieg des Goldpreises berichtete. Je länger er sprach, desto gebannter hing sie an seinen Lippen. Hin und wieder unterbrach sie ihn mit einer Zwischenfrage. Sein Bericht fesselte sie, und ihre Wissbegier beflügelte ihn. Bald diskutierten sie angeregt über ökonomische Theorien, das Finanzsystem, die Märkte, die Aussichten im Allgemeinen. Das satte Grün der Palmenblätter, die kräftigen Blautöne und Silberstreifen des Wassers, der harte Kontrast von Licht und Schatten verblassten zusehends. Wie in einer Überblendung erschien die mit Formeln tapezierte Wand des Büros in Bristol vor seinem geistigen Auge. Er glaubte sogar, das Bohnerwachs und den Staub des Instituts zu riechen. Er war zurück in der Welt, die er bis ins Innerste zu kennen glaubte, und darüber konnte der wortkarge Ryan stundenlang reden, ohne sich zu wiederholen.
Seine Gedanken kehrten erst wieder auf die Terrasse vor dem Hotel zurück, als die Tische sich wie auf ein geheimes Kommando leerten und die Küchenbrigade begann, das Büfett abzuräumen. Jessie!, schoss ihm durch den Kopf. Er hatte sich seit vier Stunden nicht blicken lassen. Sie musste stinksauer sein. Er sprang auf und entschuldigte sich hastig:
»Sorry, ich muss dringend zurück aufs Zimmer.«
Auch Alex war aufgestanden. Sie packte ihn am Arm. »Meine Geschichte«, flehte sie ihn an. Verwirrt bemerkte er die Angst in ihren Augen.
»Nach dem Mittag, um zwei hier? Ich versprech’s.«
Er löste sich von ihrem Griff und rannte zu den Aufzügen. Jessie reagierte nicht auf sein Klopfen. Er rief ihren Namen, polterte lauter an die Zimmertür. Wie ein verstoßener Liebhaber stand er halb nackt, mit hängenden Schultern vor der verschlossenen Tür. Sein Schlüssel lag im Zimmer. Ein paar Türen weiter beobachtete ihn ein Zimmermädchen mit offensichtlichem Misstrauen. Er schämte sich, wollte im Boden versinken. Ärger keimte in ihm auf. Nicht über Jessie, sie erteilte ihm nur die Lektion, die er verdiente. Neben dem Aufzug fand er ein Hoteltelefon. Aufgeregt wählte er seine Zimmernummer und wartete. Niemand antwortete. Seine Jessie war konsequent. Oder sie hatte das Zimmer tatsächlich verlassen. Es blieb ihm nur der Gang zur Rezeption.
»Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?«, fragte er, scheinbar unbekümmert über die strafenden Blicke der angezogenen Gäste, und nannte Namen und Zimmernummer.
Zu seiner Verblüffung nahm die Empfangsdame einen Umschlag aus seinem Fach. »Der Brief hier ist vor etwa einer Stunde abgegeben worden«, sagte sie lächelnd. Der Umschlag trug das Hotel-Logo und in der Mitte stand in Blockschrift: RYAN. Alles Großbuchstaben. Sein gemurmeltes »Danke« war kaum zu hören. Mit zittriger Hand riss er das Kuvert auf. Ein Notizzettel, auch mit Hotel-Logo, tauchte auf. Jessies Handschrift. Er sah es schon dem Schriftbild an, dass sie wütend war, als sie die kurze Nachricht geschrieben hatte.
Ryan,
wenn du das liest, bin ich abgereist.
Dann kannst du ungestört mit deiner Alex weiter turteln.
Jessie
Kopfschüttelnd ließ er sich in den nächsten Sessel fallen. Immer wieder las er die zwei ungeheuerlichen Sätze, suchte zu verstehen, was geschehen war. Spielte sie ihm bloß einen üblen Streich? Der Text hörte sich nicht an wie ein Scherz. Sie musste ihn mit Alex beobachtet und die falschen Schlüsse gezogen haben, impulsiv wie sie war. Eine andere Erklärung gab es nicht. Mit rotem Kopf musste er sich vom Hausdienst das Zimmer aufschließen lassen. Viel peinlicher konnte seine Lage nicht
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