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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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»Ich habe ja gesagt, es ist wichtig«, antwortete sie unsicher. »Aber wozu das alles? Was haben sie vor?«
    »Um das zu wissen, müssten wir sie erst kennen.«
    »Genau.«
    Daran hatte sie auf dem ganzen Weg hierher gedacht. Die neuste Entwicklung ließ ihrer Meinung nach nur einen Schluss zu. Sie sprach laut aus, was er mit Sicherheit auch dachte: »Es führt kein Weg daran vorbei: Wir müssen die Endbegünstigten finden, die Leute, die den größten Profit einfahren.«
    »Wir?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, ihr müsst sie finden. Meine Arbeit hier ist zu Ende, das weißt du. Ich habe selbst ein ziemlich schwieriges Problem zu lösen, drüben im alten England.«
    Da war es wieder, das gefährliche Thema. Beinahe hätte er das ‹J‹-Unwort ausgesprochen. Sie konnte seine geplante Abreise nicht mehr verhindern, damit musste sie sich abfinden. Aber seine Software ...
    »Ihr könnt das Modell behalten«, unterbrach er ihre Gedanken.
    Wie elektrisiert zuckte sie zusammen. »Was? Heißt das ...«
    Er nickte ernst. »Ja, ich hab’s mir überlegt. Ich glaube, deine Leute jetzt lange genug zu kennen, um ihnen die Software anzuvertrauen. Sie verstehen das Modell so gut, dass sie die Erweiterung selbständig einbauen können. Und überdies glaube ich nicht, dass es auf dem ganzen Planeten einen sichereren Ort für meinen Code gibt als Fort Meade mit seinen paranoiden Kontrollen.«
    Es war wie der Weihnachtsmorgen im Häuschen ihrer Eltern. Sie roch den Duft des Harzes und der Süßigkeiten, sah die bunt verpackten Geschenke unter dem geschmückten Baum. Die Erregung über das, was Ryan so nebenbei gesagt hatte, trieb ihr die Röte ins Gesicht wie damals die frohe Erwartung beim Öffnen der Pakete. Sie konnte nicht anders, fiel ihm um den Hals und küsste ihn auf den Mund. Er wich nicht zurück, nicht um Haaresbreite. Aus der flüchtigen Begegnung ihrer Lippen wurde ein inniger Kuss. Seine Arme zogen sie sanft an seinen nackten Oberkörper. Für ein paar Augenblicke ließ sie sich fallen. Hemmungslos und furchtlos tauchte sie in den schwarzen Abgrund ein, doch dann fing sie ihr Verstand auf. Sie löste sich von ihm, obwohl es ihr das Herz brach. Schnell wandte sie sich ab. Er sollte nicht sehen, wie sie sich die Tränen aus den Augen wischte. »Entschuldige«, murmelte sie unhörbar.
    Er hatte sich schweigend erhoben. Auf dem Weg in die Dusche sagte er plötzlich: »Wir sollten den Vertrag aufsetzen.« Auch das klang wie eine lahme Entschuldigung.
    Paradeplatz, Zürich
     
    Gold. Heute war der Tag des Goldes, oder, wie der Chef des Handels bei der Bank ›Escher, Stadelmann & Co‹ ihn treffender nannte: der Tag des Goldregens. Seit vier Uhr früh war Robert Bauer wach und ziemlich genau gleich lang steckte der Kopfhörer seines Smartphones im Ohr und flüsterte ihm laufend mit Computerstimme die aktuellen Futures-Preise aus den asiatischen Märkten zu. Es sah gut aus. Wie er erwartet hatte, zogen die Goldpreise dank Goldzahns wahnwitzigen Aktionen nochmals kräftig an. Seine strategische Position lag buchstäblich goldrichtig. Am selben Tag, als sie Lis Instruktionen umzusetzen begannen, hatte er die Futures zum lächerlich niedrigen Preis von 1’282.10 Dollar pro Feinunze in die Eigenposition der Bank übernommen. Und heute um elf Uhr London-Zeit würden die Kontrakte fällig. Zahltag. Er war nicht im Mindesten am Gold interessiert, das er mit den Futures auf Termin gekauft hatte. Er freute sich nur über die Tatsache, dass aus den 1'282 Dollar pro Unze bis jetzt 1’750 Dollar geworden waren. Falsch – 1’774, wie sein Knopf im Ohr meldete. Wenn die Futuresbörse um elf seine Position schließen würde, dürfte das Konto seiner Bank um schätzungsweise 50 Millionen Dollar angewachsen sein. Damit war das Jahresbudget mehr als erreicht. Im Grunde könnten sie den Handel für den Rest des Jahres schließen und sich in der Karibik in die Sonne legen.
     Seine Lotte stand draußen vor dem Personaleingang. Sie zog nervös an ihrer Zigarette und schien auf ihn zu warten. »Endlich«, brummte sie gereizt, als er sich zu ihr gesellte. Ungefragt streckte sie ihm das Päckchen entgegen und gab Feuer.
    »Alles im Grünen?«, fragte er argwöhnisch.
    Sie zuckte die Achseln. »Das wüsste ich auch gerne.«
    »Unruhige Nacht gehabt? Die Position ist doch erste Sahne.«
    »Schon, nur möchte ich gerne verstehen, was Li wieder im Schilde führt.«
    »Was denn?«
    »Er will physische Lieferung.«
    Robert glaubte

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