Im Westen geht die Sonne unter
zuerst, nicht richtig verstanden zu haben. Der Verrückte aus Macao besaß eine Futures- und Optionsposition, die der zwanzigfachen Goldmenge seiner Eigenposition entsprach. Zwei Millionen Unzen, die heute fällig wurden. Physische Lieferung bedeutete, dass sie eiligst Transport, Versicherung und Lagerung von mehr als sechzig Tonnen Gold organisieren mussten. »Warum?«, fragte er verblüfft.
»Ich hätte es nicht besser formulieren können.«
»Verdammt. Wohin will er die Ware?«
»Loco London.«
Er atmete auf. »Wenigsten das«, seufzte er und zündete sich die nächste Zigarette an. Lis Gold musste nur zu ihrer Korrespondenzbank am Broadgate im Londoner Bankenviertel transportiert werden. Auch damit dürfte sein Backoffice einige Zeit beschäftigt sein.
»Wenn du mich fragst, geht’s ihm diesmal nicht um den Profit«, bemerkte Charlotte auf dem Weg zum Handelsraum.
»Nicht nur jedenfalls, das scheint mir auch so. Es sieht fast so aus, als flüchte er ins Gold. Jedenfalls traut er weder dem Dollar noch dem Pfund, wenn man seine Geschäfte mit uns ansieht.«
»Da liegt er wahrscheinlich richtig, vorläufig. Obwohl ich glaube, der Dollar dürfte bald wieder anziehen.«
Er warf einen schnellen Blick auf seine Bildschirme. Die Zahlen und Grafiken zeigten ein ganz anderes Bild. Am letzten Handelstag des Futures war der Unzenpreis des Kontraktes identisch mit dem unterliegenden Goldpreis, und der stieg weiter. »Seltsam«, murmelte er. Normalerweise fielen die Preise eher, wenn ein großer Verfall nahte. Jeder Händler wollte rechtzeitig aussteigen, die Position verkaufen, um den Profit zu sichern. Diesmal hielt sich der Markt nicht an die goldene Regel.
Charlotte wurde ungeduldig. »Was ist, warten wir noch?«
»Ich glaube, Li weiß, was er tut. Wartet seelenruhig bis zur letzten Minute und lässt sich das Gold in die Garage karren. Sitzt der Scheißkerl doch tatsächlich auf zwei Millionen Unzen zu 1’282, ich fass es nicht.«
»1'282.10«, grinste sie. »Also, warten wir?«
Er nickte.
Der Preis des Kontrakts stieg weiter. Das bedeutete nichts anderes, als dass sie nicht die Einzigen waren, die den Braten gerochen hatten. Der Handel ging lebhaft weiter, als wären dies nicht die letzten Stunden und Minuten. Es war nicht der normale Futures-Handel. Die ganze Welt kaufte einfach Gold, egal zu welchem Preis.
Um elf stieg Robert zum zweiten Mal in diesem Jahr aufs Pult und begann seinen Tanz, stumm, ohne Musik, aber genauso inbrünstig wie das letzte Mal. Er hatte sich verrechnet. Der Schlusskurs lag nicht bei etwa 1'800, sondern bei 1’905.72. Die Bank war um 62 Millionen Dollar reicher geworden. Um seinen Bonus machte er sich ab sofort keine Sorgen mehr.
Kapitel 6
Weymouth, Dorset, UK
Ryans Bankgeschäfte erforderten bisher kaum je seine Anwesenheit an einem Bankschalter, schon gar nicht ein Gespräch mit seiner Kundenberaterin, deren Namen er zum ersten Mal hörte. Auf seinem Konto herrschte bis vor kurzem notorische Leere. Was jeden Monat übrig blieb, floss schneller als er denken konnte als Rückzahlung ins Schwarze Loch seines Studienkredites ab. Das war einmal. Noch während er über dem Atlantik einem ungewissen Wiedersehen mit Jessie entgegendöste, hatte sich sein Status bei der kleinen Bankfiliale in Weymouth über Nacht von namenlos zu bekannt, von Nobody zu VIP gewandelt. VIP war vielleicht noch etwas übertrieben. Immerhin musste er beim Empfang noch seinen Namen nennen, aber auch das würde sich schnell ändern, nahm er an. Das Abenteuer in Fort Meade hatte sich nur schon deshalb gelohnt, weil er nun am eigenen Leib spürte, wie schnell und gründlich ein bisschen Geld einen Menschen in den Augen anderer Leute veränderte. Plötzlich öffneten sich Türen, die er vorher nicht einmal gesehen hatte. Man schloss vom Wert des Geldes auf den Wert des Besitzers. Beängstigend, verstörend und im Grunde unverständlich, widerlich. Abgesehen davon, dass auch der Wert des Geldes selbst eine höchst unsichere Sache war. »Der Wert des Geldes ist eine Illusion, der man vertraut«, pflegte sein Professor zu sagen. »Reine Vertrauenssache. Nur das Vertrauen kostet.«
»Mr. Cole, wenn ich Sie bitten dürfte. Herr Direktor Sanger ist jetzt bereit, Sie zu empfangen.«
Er hatte die Frau nicht kommen sehen. Der Direktor persönlich bemühte sich um den neu entdeckten Kunden. Peinlich. Er bereute schon jetzt, hierher gekommen zu sein, aber dieses eine Mal ließ es sich nicht vermeiden. Der
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