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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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dem Zweck dienten, seinen Verstand zu vernebeln. Darum mied er die Chemie und die andern Naturwissenschaften stets, weil man nie sicher sein konnte. Mathematik hingegen kannte keine Unsicherheit. Dort war jeder Satz aus einfachen Voraussetzungen mit strenger Logik zu beweisen oder zu widerlegen. Oder man konnte beweisen, dass er weder zu beweisen noch zu widerlegen war. Klar und simpel, nicht wie das unnötig komplizierte Leben.
    Die hellen Backsteine der stattlichen Pension am Greenhill strahlten mit der heißen Nachmittagssonne um die Wette. Wie immer, wenn er hier nicht mitten im Winter auftauchte, blühte und summte der Garten der Whites, als lockten Sirenen die Reisenden ins gastliche Haus. Und so wie jedes Mal stand Jessies Mutter mit grüner Schürze und Stiefeln zwischen Stauden und wuchernden Blumen. Noch während er überlegte, wie er die unberechenbare Hazel begrüßen sollte, entdeckte sie ihn aus den Augenwinkeln und meinte trocken:
    »Hast dir aber reichlich Zeit gelassen.«
    »Hazel, es tut mir leid, was geschehen ist. Aber was immer dir Jessie erzählt hat, ich habe sie nie betrogen. Glaub mir, das alles ist ein großes Missverständnis. Es ist nur meine Arbeit ...«
    Sie stoppte ihn mit strengem Blick. »Hör auf mit dem Blödsinn. Außerdem musst du dich nicht bei mir entschuldigen, Ryan Cole.«
    Schlimm genug, dass sie seinen vollen Namen aussprach, aber wenn es sich anfühlte, als hielte sie ihm ein Messer an die Kehle, war höchste Vorsicht geboten. Er schwieg lieber.
    »Mir kannst du nichts vormachen. Ich sehe dir dein schlechtes Gewissen doch an«, murrte sie weiter. »Wie auch immer. Wichtig ist nur, dass dieses Theater endlich aufhört.«
    »Theater?«
    »Ach, du verstehst gar nichts, wie? Seit eurer famosen Verlobungsreise läuft sie mit roten Augen durch die Gegend, schließt sich heulend in ihr Zimmer ein und redet kaum noch mit mir. Was folgern wir daraus?«
    »Sie ist unglücklich?«, wagte er unsicher zu antworten.
    »Und?«
    Da er nicht wusste, worauf sie hinaus wollte, zuckte er nur hilflos die Achseln.
    »Mein Gott, Ryan, du hast wirklich keine Ahnung. Ich weiß zwar nicht, was meine Tochter an einem wie dir findet, aber sie scheint nicht ohne dich weiterleben zu können. Also, hol sie dir zurück. Nimm sie in die Arme, dann hört der Spuk endlich auf.«
    »Aber ...«
    »Sie ist unten beim Fort, nehme ich an.«
    Sobald sie den Ort erwähnte, wusste er genau, wo er sie suchen musste. Fort Nothe an der Südspitze des Hafens, grenzte an die schönste Gartenanlage der Stadt. Oft hatte er mit Jessie am Newton’s Cove gesessen und einfach stumm und glücklich den Wellen und Seglern in der Bucht zugeschaut. Wenn stimmte, was Hazel über Jessies Gemütslage sagte, konnte sie nur an diesem verborgenen Plätzchen sein.
    Kurz vor der Bucht verlangsamte er seine Schritte. Die brutale Wirklichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen kam ihm in die Quere. Wie sollte er beweisen, dass da nichts war mit Alex? Was heißt überhaupt nichts?, fragte er sich. Nichts gab es nicht in der Natur. Selbst im Vakuum waberten die Quantenfluktuationen. Nur in der Mathematik war das Nichts, die leere Menge, ein wohldefinierter Begriff, mit dem man vernünftig arbeiten konnte. Beziehungen – Stoff zum Verzweifeln.
    Er erkannte sie sofort, als er auf die Lichtung trat. Sie saß auf ihrem Felsblock, drehte ihm den Rücken zu, und ihr blondes Haar glänzte im Gegenlicht. Noch etwas fiel ihm auf. Er lächelte, als er die Schaumkronen draußen in der Bucht sah. Die Delfine sorgten für den perfekten Einstieg in die schwierige Konversation.
    »Dort drüben sind sie«, sagte er so ruhig es seine Stimme zuließ.
    »Ich weiß«, flüsterte sie.
    Sie wandte ihm langsam ihr Gesicht zu. Die geröteten Augen, der traurige Mund versetzten ihm einen Stich ins Herz. Sie so verletzt am Ort zu sehen, wo früher das Glück zu wohnen schien, war unerträglich. Er schämte sich beinahe für die teuren Ringe in seiner Tasche. Nicht exklusiver Firlefanz war jetzt gefragt, sondern die richtigen Worte und Gesten. Nicht gerade seine Stärke.
    »Scheint eine ganze Schule zu sein«, murmelte er verlegen.
    Ihr Mund formte ein zaghaftes Lächeln. Nach einer Weile fragte sie: »Wolltest du über Delfine sprechen?«
    Es lag keine Ironie in ihrer Stimme, eher etwas wie Erleichterung. Vielleicht auch ein Quäntchen Schuldgefühl, aber das bildete sich sein optimistischer Verstand wohl nur ein. Der schwere Anfang war gemacht. Von nun an fiel das

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