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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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Reden leichter. Trotzdem dauerte es eine oder zwei Stunden, bis endlich beide eingestanden, dass sie einander schrecklich vermisst hatten. Der Augenblick schien ihm geeignet, das Schächtelchen aus der Tasche zu ziehen. Es glänzte wie edle, königsblaue Seide. Umständlich steckte er ihr den kleineren der Ringe an den Finger, ohne sie dabei anzusehen. Er wartete gebannt auf ihr Urteil. Da kein Ton über ihre Lippen kam, wagte er einen scheuen Blick. Sie saß auf ihrem Fels wie die Prinzessin auf dem Brunnenrand, betrachtete abwechselnd den goldenen Ring und das Spiel der Delfine. Schnell wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. Als sie bemerkte, wie er sie beobachtete, sagte sie lächelnd:
    »Er ist ein bisschen zu groß.«
    Seine witzige Antwort erstickte sie in einem langen Kuss. Auch wie im Märchen. Er begann zu ahnen, wie sich jener Frosch gefühlt haben musste.
    »Der Ring ist so kostbar«, sagte sie schließlich gedankenverloren. »Viel zu kostbar. Hast du vielleicht doch ein schlechtes Gewissen?«
    »Unsinn, ich liebe nur dich, das weißt du. Dieses Ding ist einfach dazu da, dass du das nie vergisst. Das mit Alex war rein geschäftlich, da läuft gar nichts.«
    »Trotzdem gefällt es mir nicht. Ich habe gesehen, wie sie dich angeschaut hat.«
    Kleiner Scherz, sagte ihr Schmollmund, aber der Ton ihrer Stimme meinte etwas anderes.
    Nicht schon wieder, dachte er erschrocken und nahm sie in die Arme, wie Hazel ihm empfohlen hatte.
     
     
     
     
     
     
     
    Eccles Building, Washington DC
     
    Die zwei Männer erhoben sich höflich, als Dr. Grace E. Thompson den Thronsaal betrat. Sie nannten ihn Thronsaal, seit sie als Präsidentin die Sitzungen des Board of Governors der ›Federal Reserve‹ leitete. Die spöttische Bezeichnung störte sie übrigens nicht im Geringsten. Spott war ein überbewertetes und völlig überflüssiges soziales Phänomen, das sie konsequent ignorierte. Ohne Ironie war die Welt plötzlich viel einfacher. Ließ man den Spott vom Thronsaal weg, war es ihr Thronsaal. Eine durchaus zutreffende Bezeichnung. Sie begriff nicht, wie jemand daran zweifeln konnte. In diesem Raum ging es täglich um nichts weniger als um das Schicksal der freien Welt. Wenn sie hier dafür sorgte, dass die Zinsen ein Viertel Prozent anzogen, kippten nicht nur die Kredite hunderttausender kleiner und großer Unternehmen in ihrem Land, standen nicht nur tausende Leute von heute auf morgen auf der Straße. Nein, die Konsequenzen ihrer Entscheidungen in diesem Raum breiteten sich unweigerlich wie ein Lauffeuer auf die Zentralbanken in Europa, im Fernen Osten und in den Schwellenländern wie den ›BRIC‹-Staaten, Brasilien, Russland, Indien und sogar China, aus. Thronsaal war eine maßlose Untertreibung, hatte sie längst eingesehen. Zentrum des Universums wäre wohl eher angemessen. Auch das meinte sie keineswegs ironisch. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hatte es einen Ort gegeben, wo mehr Macht versammelt war als in diesem Raum. Im Vatikan vielleicht, aber dessen große Zeit war längst vorbei.
    Grace schüttelte ihr strohblondes Haar elegant zurecht, setzte ein strahlendes Lächeln auf ihre perfekt nachgezogenen, knallroten Lippen und begrüßte ihre späten Gäste.
    »David, Holger, bitte entschuldigt die kleine Verspätung. Ich hatte eben ein längeres Gespräch mit unserem Kollegen in Japan. Mr. Kutawa – Kutazawa – Gott, warum haben die Leute nicht Namen, die man aussprechen kann? Also, Mr. Kutazawa ist untröstlich, nicht an unserer Sitzung teilnehmen zu können. Die Kabinettsumbildung ist in vollem Gange, da kann er natürlich das Land nicht verlassen.«
    Die Herren nickten verständnisvoll. Dr. Holger Schliemann, der Präsident der Europäischen Zentralbank, lächelte wie immer vornehm und völlig unverbindlich. Sir David Goodrich, sein Kollege von der Bank of England saß steif und mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck in seinem Sessel, als wäre er gar nicht anwesend. Grace verstand, dass die beiden alles andere als begeistert waren von diesem verschwiegenen Treffen hinter verschlossenen Türen, aber sie konnte keine Rücksicht nehmen auf die lokale Befindlichkeit dieser Männer. Was sie an diesem Abend unter strengster Geheimhaltung zu besprechen hatten, war nichts weniger als das dringendste globale Problem und duldete folglich keinen Aufschub. Sie setzte sich genau in die Mitte zwischen die beiden Währungshüter und sprach sofort Klartext:
    »Ihre Anwesenheit, meine Herren, ist der

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