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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Anderegg
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sinnigerweise auch diesen Namen trug. Er war in den Berg gehauen und führte in schwindelnder Höhe über dem See sanft nach oben. Li ging mit dem Banker voran. Danny hatte das Vergnügen, hinterherzulaufen, die Schlange und den tödlichen Bulldozer im Rücken. Während sich seine Gedanken nur noch darum drehten, wie er diese unnötige Wanderung heil überstehen könnte, schien Li in Sonntagsstimmung zu sein. Er schwatzte mit Bauer wie ein aufgeregter Knirps auf der Schulreise. Tony das ›Einohr‹ heftete sich auffallend nah an Dannys Fersen. So empfand er es mit steigendem Unbehagen. Er zwängte sich nahe an der Felswand vorbei, wagte kaum einen Blick in den tödlichen Abgrund und hielt laufend Ausschau nach Handgriffen, an denen er sich im Notfall festhalten konnte. Den Holzlatten an der Felskante traute er ohnehin nicht. Warum zum Teufel waren sie die einzige Wandergruppe, die unterwegs war? Gibt es keine anderen verdammten Touristen hier?, fragte er sich griesgrämig. Die Gelegenheit war günstig, wenn der Bulldozer den Auftrag hatte, einen kleinen Unfall zu veranstalten. Panik ergriff ihn allmählich, während er angestrengt versuchte, nach außen kühl zu bleiben. Keine Blöße geben. Er verfluchte den Tag, an dem er Li begegnet war.
    Sie näherten sich ohne Zwischenfall einer Stelle, von der aus sie den stählernen Fremdkörper aus der Nähe betrachten konnten, der wie ein Minarett aus dem Berg ragte. Bauer blieb stehen, zeigte auf das abenteuerliche Gebilde und erklärte:
    »Da hinauf fahren wir. Das ist der höchste Außenlift des Kontinents und der schnellste obendrein, der Ham...«
    Den Rest verstand Danny nicht mehr. Der Name des verrückten Fahrstuhls erinnerte ihn an das Geräusch seiner alten Waschmaschine: »Hamham – schsch –hamham«. Li schienen die Superlative zu beeindrucken. Er selbst interessierte sich in diesem Moment nur für die kritischen Stellen, wo man leicht in die Tiefe stürzen konnte, wenn man nicht aufpasste. Dieser Trip durch eine der schönsten Gegenden in den Alpen glich mehr und mehr einem Albtraum. Scheiß Nervenkitzel, schimpfte er im Stillen und drängte sich an Bauer vorbei, als wollte er genauer gucken.
    Der Aufzug fuhr in einem scheinbar frei schwebenden Metallgitter, das einen ungehinderten Blick aus der verglasten Kabine auf das Panorama der Innerschweizer Seen, saftig grünen Wiesen, bewaldeten Hügel und schneebedeckten Berge erlaubte.
    »Ah – Gotthard?«, fragte Li, als er die weißen Gipfel sah.
    Er sprach wohl nur, um seine Angst zu verbergen.
    »Nein, das sind die Glarner Alpen. Das Gotthardmassiv liegt im Süden, hinter unserm Rücken.«
    Bauer gefiel sich in der Rolle des Organisators dieses ›Kundenevents‹, wie er die Tortur nannte. Im Aufzug fühlte sich Danny sicher. Das änderte sich schlagartig, als die Kabine anhielt und die Tür sich öffnete. Bauer musste seinen ganzen Charme und die Überzeugungskraft der Schlange Mei Tan einsetzen, bis Li wagte, einen Fuß auf den filigranen Steg zu setzen, der den Lift vom festen Boden trennte. Man sah ihm die Todesangst an. Er traute der schwindelerregenden Gitterkonstruktion vor der senkrechten Felswand, siebenhundert Meter über dem See, keine Sekunde. Dannys Schadenfreude währte nicht lange. Sobald er selbst auf dem Steg stand, ans zierliche Geländer geklammert, schloss er die Augen für einen Moment, um den Schwindel zu bekämpfen. Zwei kräftige Pranken packten ihn an den Schultern, drückten seinen Oberkörper über die Brüstung. In höchster Verzweiflung schnappte er nach Luft. Er wollte schreien, doch aus seinem Mund drang nur ein ersticktes Röcheln. Er sperrte sich mit letzter Kraft gegen den Schraubstock, der ihn in den Abgrund drängte. Endlich fand er seine Stimme wieder. Mit einem gellenden Hilfeschrei gelang es ihm, sich aus Tonys stählernen Klauen zu befreien und über den Steg aufs Felsplateau zu springen.
    »S ǐ pì yǎn!« – »Verfluchtes Arschloch!«, keuchte er außer Atem, was dem ›Einohr‹ nur ein mitleidiges Grinsen entlockte.
    Li und den andern beiden schien die Episode eitel Freude zu bereiten.
    »Hohes Risiko«, grinste Bauer und erntete damit sogar von der Schlange Beifall.
    Danny kochte innerlich vor Wut über die Idioten, die ihm jahrelang sein Wissen und Können und seine Zeit gestohlen hatten. Noch mehr hasste er sich selbst für seine Schwäche. Es war höchste Zeit, sein Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.
     

Gotthardmassiv, Zentralschweiz
     
    Danny

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