Im Westen geht die Sonne unter
dann zog er sein Handy hervor und wählte die Nummer auf dem Kärtchen.
Fort Meade, Maryland
Alex war dabei, ihren PC für die kurze Mittagspause herunterzufahren, als das schwarze Telefon klingelte. Seit ihrem missglückten Abstecher nach Macao hatte der Apparat geschwiegen, ganz zu ihrem Erstaunen. Sie hätte erwartet, dass Lis Krieger zumindest versuchen würden, sie zu lokalisieren, oder seine Anwälte. Vielleicht war es jetzt soweit. Das Display zeigte keine Nummer, nur der Klingelton verriet, dass es ein internationaler Anruf war. Sie hob ab.
»›Wall Street Journal‹, Alex Oxley.«
»Sind Sie die Journalistin, die mit Mr. Li von ›Galaxy Boom Industries‹ gesprochen hat?«
Die Männerstimme sprach mit chinesischem Akzent. »Mit wem spreche ich?«, fragte sie vorsichtig.
Es entstand eine kurze Pause, dann antwortete der Anrufer: »Danny Chen, Dr. Danny Chen. Ich bin Elektronik-Ingenieur aus Taiwan. Wir haben für Mr. Li gearbeitet. Hören Sie, es ist dringend. Haben Sie mit Mr. Li gesprochen?«
»Shu ō p ǔt ō nghuà ma?« – »Sprechen Sie Mandarin?«
Die Antwort kam schnell: »D ā ngrán.« – »Selbstverständlich.«
Der Wechsel zur chinesischen Sprache war ein erster einfacher Test, plumpe Lügner zu entlarven. Seine Aussprache, die Betonung der zwei Silben, hörte sich perfekt an. Er schien tatsächlich Chinese zu sein. Sie drückte zwei Tasten an ihrem Telefon, die sie schon lange nicht mehr benutzt hatte. Damit aktivierte sie eine Art Lügendetektor, eine Software, die den Klang der Sprache laufend analysierte und anzeigte, wie gestresst ein Anrufer war. Sprach er überwiegend im roten Bereich, deutete das darauf hin, dass er wahrscheinlich nicht die Wahrheit sagte. Sie hatten die Methode bei der NSA soweit perfektioniert, dass sie problemlos jeden einheimischen Politiker entlarven konnten – in Echtzeit. Mit Ausländern funktionierte die Software aber nur, wenn sie in ihrer Muttersprache redeten.
»Kennen Sie Herrn Li, haben Sie mit ihm gesprochen?«, drängte der Anrufer.
Die Anzeige schlug kurz in den roten Bereich aus, dann verharrte sie in der grünen, mittleren Zone. Der Mann stand unter Strom, das hörte sie auch ohne kluge Software. Sie führte die Unterhaltung auf Chinesisch fort: »Hat er das gesagt? Erzählen Sie. Was wollen Sie von mir?«
»Ich habe Ihre Visitenkarte bei ihm gesehen. Herr Li und seine Leute planen ein schreckliches Verbrechen. Ich bin bei meiner Arbeit darauf gestoßen. Ich glaube, ich bin in großer Gefahr. Können Sie mir helfen?«
Grün. Stress, aber keine Lüge, behauptete die Software. Seine Antwort elektrisierte sie. »Hat das etwas mit Gold und Devisen zu tun?«
»Ja, Banken, woher wissen Sie ...?«
Immer noch grün. Sie unterbrach ihn, bevor er weitere Einzelheiten preisgeben konnte. »Sprechen Sie nicht weiter. Nicht über diese Leitung«, sagte sie aufgeregt. »Wir müssen uns treffen.«
»Ich bin in Zürich, in der Schweiz.«
»Gut, ich kann morgen Abend dort sein.«
»Das ist zu spät. Ich muss so schnell wie möglich weg hier. Lis Killer sind auch in der Stadt. Sie können jederzeit zuschlagen.«
Der Mann sagte die Wahrheit. Davon war sie genauso überzeugt wie ihr raffinierter Lügendetektor. Endlich kam Licht in die dunklen Machenschaften des Mr. Li, die bis zu den tödlichen Turbulenzen im Markt für Seltene Erden zurückreichten. Ein seidener Faden, an dem vielleicht die Aufklärung der gegenwärtigen Krise auf den Finanzmärkten hing, und schon drohte er zu zerreißen. Es gab keine NSA-Leute in Zürich und Umgebung. Sie waren nicht die CIA. Der Mann war ein Whistleblower, und wenn sie nicht alles täuschte, schwebte der Mann in Lebensgefahr. Sie mussten unverzüglich handeln. Jede Minute zählte. Und diese Verbindung war alles andere als sicher. Während sie sich fieberhaft überlegte, was zu tun war, versuchte sie ruhig und sachlich mit ihm zu sprechen. »Weiß sonst noch jemand von Ihrer Entdeckung?«
»Nein, natürlich nicht. Das heißt, ein Kollege wusste davon. Er ist tot.«
Sie erschrak. »Das – tut mir leid«, stammelte sie.
»Ermordet.«
»Oh mein Gott.«
»Verstehen Sie jetzt? Ich bin wahrscheinlich der Nächste.«
Zweifellos, dachte sie. Der Mann musste augenblicklich aus der Schusslinie. »Ich schaue, was wir tun können«, sagte sie in der Hoffnung, er würde ihre Ratlosigkeit nicht bemerken.
»Es eilt«, rief er nervös.
»Ich weiß. Geben Sie mir Ihre Nummer, bitte.«
Sie war noch nie so schnell
Weitere Kostenlose Bücher