Im Winter der Löwen
als Vorlage? Sie bauen exakte Nachbildungen. Was dient als Vorlage?«
»Ja …«, sagte Vaasara.
»Ja?«
»Verschiedenes. Das hängt auch von der Herangehensweise des Einzelnen ab.«
»Das heißt?«
»Ein Leichenbauer ist natürlich gut geschult in der menschlichen Anatomie. Das muss er ohnehin sein, um andere, also … normale Puppen zu bauen. Und für die Nachbildung der Leichen nutzen wir … verschiedene Quellen. Wir haben zum Beispiel häufig auf Literatur der Polizei zurückgegriffen, es gibt Lehrbücher für Absolventen der Polizeischulen, die sehr detailliert verschiedene Todesarten abbilden …«
Joentaa nickte.
»Wir arbeiten mit der Gerichtsmedizin in Helsinki zusammen … und mit dem Fachbreich Medizin an der Universität … wir nehmen an Sektionen teil … und Harri hatte neben seinen kunsthandwerklichen Ausbildungen Abschlüsse in Chemie und Biologie … er … er war brillant.«
Joentaa nickte. »Ich meine noch etwas anderes«, sagte er.
»Was denn?«, fragte Vaasara.
»Ist es möglich, dass ein Angehöriger in einer Ihrer Puppen den Toten wieder erkennt, um den er trauert?«
Vaasara schwieg.
»Verstehen Sie?«, fragte Joentaa.
»Ich denke, ja.«
»Und?«
»Es ist nicht möglich«, sagte Vaasara. »Und warum nicht?«
»Wir bilden keine realen Toten ab«, sagte Vaasara.
»Aber es dienen doch Fotos als Vorlage. Fotos aus Lehrbüchern zum Beispiel.«
»Natürlich«, sagte Vaasara.
»Also?«
»Wir nutzen Fotos. Harri mehr als ich. Harri hatte große Datenbanken mit Fotos, das Internet ist voll davon. Wasserleichen. Erschlagene, Erschossene, Überfahrene, Verstümmelte. Leichen in verschiedenen Stadien der Verwesung.«
»Dann sind wir uns einig«, sagte Joentaa.
»Nein«, sagte Vaasara. »Wir nutzen Fotos und Abbildungen genau so wie unser Wissen um chemische und biologische Prozesse und vor allem natürlich unsere Gestaltungskraft, um Puppen zu bauen. Keine realen Menschen.«
»Das heißt …«
»Das heißt, dass die reale Vorlage, wenn es sie gibt, nicht der Puppe entspricht, die am Ende gefertigt wird.«
Joentaa schloss die Augen und spürte, wie der vage, abwegige Gedanke immer konkretere Gestalt annahm, je länger Vaasara ihn vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Vaasara klang nicht beunruhigt oder beleidigt, sondern beantwortete die Fragen ruhig und schläfrig und abwesend, und schien nicht zu verstehen, was Joentaa ihm sagen wollte.
»Die Gesichter«, sagte Joentaa.
»Gesichter?«, fragte Vaasara.
»Die Gesichter der Puppen. Wer dient als Vorlage?«
»Welche Gesichter?«, fragte Vaasara.
»Die Gesichter der Puppen«, sagte Joentaa.
»Ach so … die Puppen haben keine Gesichter. Das sind meistens nur Flächen, weil die Köpfe in den Filmen, für die die Puppen angefertigt werden, nicht gezeigt werden.«
»Aber manchmal werden die Köpfe gezeigt.«
»Ja. Stimmt. Dann sind es in der Regel unkenntliche … Fleischberge … oder Hautfetzen oder aufgedunsene …«
»Das ist nicht ganz richtig«, sagte Joentaa.
»Hm … manchmal sind es tatsächlich reale Gesichter, die der Schauspieler. Wir haben einmal sogar einen toten Hollywoodstar angefertigt. Der bewegte sich als Running-Gag durch eine Sinnlos-Komödie.«
»Nein, was ich meine, ist: Die Puppen, die in der Talkshow ausgestellt waren, bei Hämäläinen … die haben Gesichter.«
»Hm … nein, das denke ich nicht«, sagte Vaasara.
»Doch, zum Beispiel das Opfer des Flugzeugabsturzes. Das Gesicht der Puppe wird sogar einige Augenblicke in Großaufnahme eingeblendet.«
»Hm … Flugzeugabsturz …«
»Haben Sie die Sendung nicht gesehen?«
»Nein, ich war damals auf Projektarbeit in den Staaten.«
»Man sieht das Gesicht …«
»Sie sagen Flugzeugabsturz, ich glaube kaum, dass man da viel vom Gesicht sieht …«
»Man sieht das Gesicht. Natürlich ist es … schwer verwundet und …«
»Das sage ich ja. Ein Fleischberg, von blutigen Striemen durchzogen, aufgedunsen … mit Sicherheit unkenntlich. Vielleicht ist es sogar Harri selbst.«
»Wie bitte?«
»Manchmal hat Harri den Puppen im Entstehungsprozess sein eigenes Gesicht gegeben. Aus … aus Spaß.«
Vaasara klang traurig, während er das sagte, und Joentaa fühlte sich erschöpft.
»Das Gesicht, das ich meine, ist nicht das von Harri Mäkelä«, sagte er.
»Ich sage ja nur, dass Harri manchmal …«, begann Vaasara.
»Nein. Ich glaube, wir kommen hier nicht weiter«, sagte Joentaa.
»Ja …«
»Ich danke Ihnen.«
»Ja …«, sagte
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