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Im Winter der Löwen

Titel: Im Winter der Löwen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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ist denn …«
    »Larissa ist im Bad. Ich hole sie ab, weil sie so weit laufen muss zur Bushaltestelle.«
    »Ja …«
    »Sie kam gestern zu spät. Das wird nicht so gerne gesehen.«
    »Ja … schön, dass Sie sie abholen.«
    »Soll sie zurückrufen?«
    »Das wäre nett.«
    »Bis dann.«
    »Ja … äh … Moment noch …«
    Jennifer oder wie auch immer hatte die Verbindung unterbrochen, und Kimmo Joentaa stand eine Weile mit dem Telefon in der Hand da. Dann verstaute er es in seiner Manteltasche und trat in die Wintersonne.
39
    Pellervo Halonen, der Leiter des Heims, winkt, und Rauna dreht sich im Kindersitz um und winkt auch.
    »Tschüüüüß«, ruft sie, obwohl Pellervo Halonen sie nicht hören kann.
    Auf der Fahrt sitzt ihr Nachbar Aapeli auf dem Rücksitz und erzählt Rauna Geschichten, und Rauna lacht nahezu ununterbrochen. Sie ist froh darüber, dass Aapeli dabei ist. Er ist ihr am Morgen entgegengekommen, als sie gerade losfahren wollte. Aapeli hat gegrüßt und gelächelt, und sie hat die Traurigkeit in seinen Augen gesehen und gefragt, ob er mitkommen wolle.
    »Wohin denn?«
    »Ins Muumintal. Nach Naantali.«
    »Den Park für Kinder?«
    Sie hat genickt.
    »Wir beide?«, hat Aapeli gefragt.
    »Und Rauna«, hat sie geantwortet. »Eine Freundin, wir holen sie ab.«
    Aapeli hat eine Weile im Wirbel der Schneeflocken gestanden und nachgedacht, dann hat er genickt und ist gar nicht mehr ins Haus, sondern gleich mit zum Auto gegangen.
    Jetzt erzählt Aapeli Geschichten, und Rauna lacht, und sie gleitet wie auf Schienen über den Schnee, und die Welt ist in Ordnung.
    Rauna fragt, woher er alle diese Geschichten kenne, und Aapeli antwortet, das seien die Geschichten, die er seinen Enkelkindern nicht erzählen könne, weil seine Kinder nie zu Besuch kommen.
    »Warum?«, fragt Rauna.
    »Ich glaube, weil sie wenig Zeit haben«, sagt Aapeli.
    »Warum?«, fragt Rauna.
    »Weil sie viel arbeiten müssen und etwas weiter entfernt wohnen.«
    »Warum?«, fragt Rauna.
    Als sie in Naantali ankommen, sind die Holzhäuser in Weiß gehüllt, die Restaurants geschlossen, und das Meer ist zugefroren. Sie gehen den breiten Steg entlang, und Aapeli sagt: »Ist das Muumintal überhaupt geöffnet im Winter?«
    Sie bleibt stehen und sieht ihn an.
    »Ich meine ja nur, das ist doch eigentlich viel zu kalt jetzt.«
    Sie laufen weiter, bis ans Ende des Stegs, und den Waldweg entlang auf die Insel, bis das große umzäunte Gelände beginnt. Die Kassenhäuschen sind nicht besetzt, die Fenster mit Vorhängeschlössern abgedichtet.
    »Du hast Recht, Aapeli«, sagt sie.
    »Schade«, sagt Rauna.
    »Ich hätte daran denken müssen, im Winter war schon immer geschlossen«, sagt sie.
    Aapeli ist einige Schritte weitergegangen. »Komischerweise stehen aber die Türen sperrangelweit auf«, ruft er.
    »Ja«, sagt sie.
    Die Kassenhäuschen sind geschlossen, aber die breiten Tore, durch die man in die Welt der Muumis gelangt, sind geöffnet.
    »Dann lasst uns doch weitergehen«, sagt Aapeli.
    Rauna läuft los, und sie zögert. Sie hat schon immer Angst davor gehabt, etwas Verbotenes zu tun. Und sei es unbeabsichtigt.
    »Komm schon«, ruft Aapeli, und sie denkt, dass sie ihn noch nie glücklicher gesehen hat. Rauna nimmt Aapelis Hand, und sie gibt sich einen Ruck und folgt den beiden.
    Sie laufen auf einer leeren Insel und hören ein wiederkehrendes Klopfen. In regelmäßigen Abständen. In der Ferne rufen Männer sich etwas zu, das nicht zu verstehen ist.
    »Die renovieren hier, deshalb war der Eingang offen«, sagt Aapeli. Sie bleiben auf der Anhöhe stehen und sehen den blauen Turm aus Holz, in dem die Muumis wohnen. Ein Mann steht auf einer Leiter und schlägt mit einem Hammer gegen das rote Dach. Ein anderer steht unten und gibt Anweisungen. Die beiden beachten sie gar nicht, als sie vorübergehen.
    »Weiter unten ist der Badestrand«, sagt sie. »Und wenn wir uns links halten, kommen wir zu Muumipapas Schiff.«
    »Super, da will ich hin«, sagt Rauna.
    »Und ich erst«, sagt Aapeli.
    Die beiden gehen voran, obwohl sie den Weg nicht kennen, und sie folgt ihnen und denkt an den Sommer, in dem sie hier gearbeitet hat. Es ist keine Erinnerung, es ist eine Abfolge nicht greifbarer Bilder.
    Sie die kleine Myy.
    Ilmari ein Fremder.
    Und Veikko noch nicht geboren.
    Das Gefühl des kalten Wassers auf der Haut an sonnigen Abenden.
    »Nach links, die Treppe hoch«, ruft sie Rauna und Aapeli zu.
    Mit Veikko wäre sie gerne hierher gekommen. Im nächsten Sommer.

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