Im Winter der Löwen
Wenn das Muumintal wieder geöffnet ist.
»Mit dem Schiff fahren die Löwen los«, ruft Rauna. Sie steht oben an Deck und dreht wie wild das Steuerrad in alle Richtungen. »Und ich bin Kapitän, nicht der bärtige Mann.«
»Ich mache den Schiffsjungen«, sagt Aapeli.
Sie steht unten und reckt den Hals, um die beiden zu sehen.
»Kommst du mit?«, ruft Rauna.
Über ihr der graue Himmel. Er löst sich von den losen Fäden, an denen er hängt. Auf dem Wasser knirschen und brechen die Eisschollen.
»Kommst du mit?«, ruft Rauna.
Raunas Stimme und ein Bild in ihrem Kopf. Raunas Augen. Sie füllen ihr Blickfeld aus. Raunas Augen im Dunkel. »Ist der Himmel eingestürzt?« Das ist Raunas Stimme, sie spürt das Zittern ihrer Lippen, und sie möchte nach ihr greifen, möchte sie berühren, aber sie kann sich nicht bewegen.
Sie öffnet die Augen und spürt Raunas Wange an ihrem Arm. »Kommst du mit?«, flüstert sie.
»Tolles Schiff«, sagt Aapeli, ihr langjähriger Nachbar, den sie heute erst kennenlernt.
»Wohin du willst«, sagt sie.
»Zum Badestrand«, sagt Rauna. »Ob wir auf dem Wasser laufen können?«
40
Westerberg war bereits zum Sender gefahren, aber ein freundlicher Kollege sorgte dafür, dass innerhalb von Minuten sämtliche Fotos von Harri Mäkeläs Computerfestplatte kopiert und Joentaa zur Verfügung gestellt wurden.
Joentaa saß allein in einem großen, überheizten Raum in einer langen Reihe offensichtlich neuer Computer vor einem Bildschirm und betrachtete einen lauthals lachenden Harri Mäkelä, der einem Freund einen Arm um die Schulter gelegt hatte. Eines von vielen Privatfotos. Auf fast allen lachte Mäkelä, ein selbstsicheres, sympathisches Lachen.
Er benötigte eine Weile, bis er die Ordnung in Mäkeläs Foto-Archiv begriffen hatte. Dann allerdings kristallisierte sich ein einfaches Muster heraus. Die Archive mit den Bildern, die er suchte, hatte Mäkelä unter der Wortschöpfung »ToteFürDummys« zusammengefasst. Joentaa öffnete einige der Ordner und ließ die Bilder ablaufen. Der Schüttelfrost kehrte zurück.
Die Bilder zeigten in der Regel Aufnahmen von Unfallschauplätzen. Fahrräder, Motorräder, Autos, Hubschrauber, Teile von Flugzeugen. Feuerwehrmänner, die sich über die Toten beugten, Sanitäter, die Decken über den Leichen ausbreiteten.
Manchmal benötigte Joentaa einige Minuten, um das Element im Bild zu finden, das für den Ordner »ToteFürDummys« aus der Sicht des Puppenbauers verwertbar war. Das abgetrennte Bein eines Menschen im Dickicht, neben dem abgetrennten Rumpf eines Flugzeugs. Die Fotos schienen von Fotografen aus allen Teilen der Welt zu stammen, aus Finnland, aber auch aus der Wüste und den Tropen, viele schienen in Amerika aufgenommen worden zu sein, und es waren Hunderte.
Herren des Todes, dachte Joentaa.
Er ließ die Bilder ablaufen und fragte sich, wie sie ihm helfen sollten, den Tod Mäkeläs, den Tod Patrik Laukkanens und das Attentat auf Hämäläinen zu begreifen.
Ein Gespräch über Puppen war die Klammer, die alle drei aneinander band. Und die Bilder, die er ansah, hatten Mäkelä Ideen und Erkenntnisse geliefert, hatten ihn in die Lage versetzt, realistische Nachbildungen zu bauen.
Realistische Fiktion. Je länger er die Bilder ansah, desto fragwürdiger erschienen ihm die Theorien, die er entwickelte. Von den Hunderttausenden, die die Sendung gesehen hatten, hatten sicherlich die meisten schon den Tod eines nahestehenden Menschen verarbeiten müssen. Warum sollte sich einer von ihnen persönlich angesprochen fühlen, wenn sich alle anderen lediglich gut unterhalten hatten? Drei Puppen waren von Mäkelä präsentiert worden, und Mäkelä hatte erläutert, welchen Filmtod sie gestorben waren oder sterben würden – Opfer eines Flugzeugabsturzes, Opfer eines Zugunglücks, Opfer eines Brandes in einer Geisterbahn. Joentaa fragte sich, warum nur er das Ganze als geschmacklos empfand. Er und Larissa oder wie auch immer.
Und er fragte sich, ob er genau deshalb falsch urteilte. Falsche Theorien entwickelte, die nirgendwohin führten. Puppen, Kimmo, Puppen. Sundström hatte vollkommen Recht.
Er betrachtete die Fotos, fühlte ein flaues Gefühl im Magen und verstand nicht mehr, was er sich davon versprochen hatte. Übersichtlich kategorisierte Fotos. Eine makabre Dia-Show. Sonst nichts.
Er selbst hatte ähnliche Fotos im Rahmen seiner Ausbildung angesehen. Um vorbereitet zu sein und um Kenntnisse zu erwerben, die notwendig waren. Genau wie
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