Im Winter der Löwen
entscheidenden Hinweis beisteuern.«
»Es geht darum zu recherchieren, ob im Umfeld dieser Opfer Angehörige ausfindig zu machen sind, die besonders auffällig auf den Unfalltod reagiert haben oder besonders nachhaltig traumatisiert waren. Den einen zu finden, bei dem die Trauer in irrationale Aggression umgeschlagen ist.«
»Klingt spekulativ«, sagte Grönholm.
»Ich weiß«, sagte Joentaa. »Ich habe die Namen schon zugeordnet. Bis morgen Nachmittag sollten wir zu allen einen Überblick geben können.«
»Hm«, sagte Grönholm.
»Wer tötet die Herren des Todes«, sagte Tuomas Heinonen.
»Was?«, fragte Grönholm. »Die Schlagzeile heute, im Illansanomat .«
»Aha«, sagte Grönholm.
»Vielleicht ist Kimmos Idee ja nicht so abwegig«, sagte Heinonen.
»Kimmos Ideen sind immer abwegig«, sagte Grönholm und lächelte.
52
Sie verlässt das Büro des Anwalts und gleitet auf Schienen über den Schnee.
Sie sitzt einem Mann gegenüber, zwischen ihnen ein kleiner Tisch. Der Mann hämmert abwechselnd auf die Tastatur eines kleinen Computers und auf die seines Handys ein. Von Zeit zu Zeit hebt er kurz den Kopf und scheint durch sie hindurchzublicken wie durch eine Glasscheibe.
Sie sieht ihn an, und das stetige, trommelnde Geräusch, das seine Finger verursachen, dringt in sie ein und bildet einen angenehmen, stimmigen Kontrast zu der Schwebe, in der sie sich befindet. Der Schaffner kommt und stempelt die Fahrkarten ab. Ab und zu rennen lachend Kinder vorüber. In die eine, dann in die andere Richtung.
»Langsam, langsam«, murmelt der Mann, ohne den Blick von der Tastatur zu nehmen.
Am Bahnhof in Helsinki erwartet sie ein junger Mann, der lächelnd auf sie zukommt. Ein glückliches, echtes Lächeln. Er hat einen festen Händedruck. »Willkommen. Ich bin Olli Latvala. Wir freuen uns sehr, dass Sie zugesagt haben«, sagt er.
Sie nickt. Zugesagt. Ein interessantes Wort. Sie denkt so häufig über Worte nach, seitdem es ihr schwerfällt, sie auszusprechen.
»Ich bin, ehrlich gesagt, erleichtert, dass Sie da sind. Irgendwie haben wir uns am Telefon nicht mehr erwischt«, sagt Olli Latvala.
Sie nickt.
»So ist das oft bei uns«, sagt Olli Latvala. »Alles auf die letzte Sekunde. Und am Ende klappt es doch.«
Die letzte Sekunde, denkt sie.
»Sehr schön«, sagt Olli Latvala. »Lassen Sie mich das tragen.« Er nimmt ihr die Tasche ab und geht zügig voran.
Sie erinnert sich an den ersten Anruf. Es ist einige Monate her. Ein später Sommertag. Flimmernde Hitze. Das Klingeln des Telefons kristallisiert sich aus der Stille heraus, und während sie geht, um abzuheben, denkt sie darüber nach, wer das sein könnte. Seit einer Weile hat niemand mehr angerufen.
Die Stimme der Frau klingt fremd und sanft und fordernd zugleich. Sie stellt sich als Tuula Palonen vor und spricht einige Minuten über den Einsturz des Himmels, über Ilmari und Veikko, ohne ihre Namen zu nennen und ohne zu begreifen.
Sie begreifen gar nicht, sagt sie am Ende zu Tuula Palonen, und sie schweigt einige Sekunden. »Dann helfen sie mir«, sagt Tuula Palonen schließlich. »Helfen Sie mir und allen anderen zu verstehen. Deshalb laden wir Sie ein. Denn wer begreift es, wenn nicht Sie?«
Als Tuula Palonen zwei Tage später erneut anruft, sagt sie zu, und Tuula Palonen freut sich und stellt ihr eine Reihe von Fragen über den Einsturz des Himmels und darüber, wie sie ihn erlebt hat, und sie hat, während sie antwortet, den Eindruck, eine Prüfung abzulegen. Am Ende sagt Tuula Palonen, dass es leider nicht möglich sei, ein Honorar zu zahlen.
Honorar, denkt sie. Denkt über Worte nach. Der junge Mann verstaut ihre kleine Reisetasche im Kofferraum und hält ihr die Tür des Wagens auf.
»Sie übernachten im Sokos. Schönes Hotel.«
Sie nickt.
Der Anruf ist im Sommer gewesen.
Die Dankeskarte und die Einladung kamen im Herbst.
Jetzt ist Winter.
»Vielleicht läuft Ihnen im Hotel Bon Jovi über den Weg«, sagt Olli Latvala. »Tourt gerade durch Skandinavien, wir hatten das Riesenglück, ihn kurzfristig zu bekommen. Sie kennen doch Bon Jovi?«
Sie nickt, und der junge Mann steuert den Wagen in ein rotes, gelbes, schwarzes Lichtermeer.
»Ich würde gerne morgen Vormittag mit Ihnen über den Ablauf sprechen. Nach dem Frühstück, wenn es Ihnen recht ist. Ich könnte ins Hotel kommen.«
Sie nickt.
»Um 17 Uhr werden Sie dann vom Fahrdienst abgeholt.«
»Ja«, sagt sie.
»Das mit Ihrem Mann und Ihrem Sohn … das … tut mir ungeheuer leid«,
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