Im Wirbel der Gefuehle
hatte. Als Chalmette zum Sprung angesetzt hatte, war er eigentlich schon bereit gewesen, für all das erlittene Unrecht blutige Rache zu nehmen, doch dann trat er beiseite und ließ dem Hund den Vortritt. Es schien klüger zu sein, auch wenn er sich einredete, dass es ihm nichts ausgemacht hätte, wenn Marguerite ihn als den Mann in Erinnerung behielt, der ihren Vater umgebracht hatte. Er fürchtete aber auch, dass er in gewisser Weise enttäuscht und innerlich leer gewesen wäre, wenn er selbst dem Verfolgten ein Ende bereitet hätte. Andererseits gab es auch wieder Momente wie diesen, wenn er an das Leid der Opfer dachte, dann bereute er es mitunter, nicht selbst den Todesstoß geführt zu haben.
»Kinder sind sehr gut darin, schreckliche Erlebnisse in der hintersten Ecke ihres Gedächtnisses abzulegen und alles erst einmal zu verdrängen«, bemerkte Reine sanft, »auch wenn ich damit nicht sagen will, dass sie jetzt keine besondere Zuwendung bräuchte und keine Albträume mehr hätte. Zumindest werden sie die bisherigen Monster nicht mehr heimsuchen. Wie dem auch sei, im Moment ist sie jedenfalls in der Küche und zeigt jedem ganz stolz ihren Verband und wird mit Keksen und Milch versorgt. Nun ja, und sie teilt sie mit Chalmette, der jetzt natürlich erst recht ihr treuester Begleiter ist, in den sie uneingeschränktes Vertrauen hat.«
»Die Schnitte waren demnach nicht so schlimm?«
»Ein oder zwei gingen schon ziemlich tief, aber sie kann noch alle Finger bewegen.«
»Und deine Mutter?«
Reines Lippen formten sich zu einem ernsten Lächeln. »Sie schläft immer noch, das erste Mal, dass sie seit ... ja, seit jener Nacht vor zwei Jahren wirklich ruhen kann. Sie ist jetzt richtig erleichtert, denke ich, denn sie war immer der Ansicht gewesen, dass sie damals Theodore umgebracht hätte. In jener schrecklichen Nacht war sie es nämlich gewesen, die sein Gesicht so furchtbar zugerichtet hat.«
Während der ganzen Zeit hielt sich Madame Cassard im Hintergrund, wenn nicht gar versteckt, denn sie glaubte sich des Mordes schuldig. Das erklärt einiges, dachte Christien. Das war mehr als bedauerlich, dass diese ganzen Selbstvorwürfe, Zweifel und Qualen völlig umsonst waren. Vor allem war es auch ein weiterer schwarzer Fleck in Theodore Pingres Leben, denn er hatte es zugelassen, dass seine Schwiegermutter so litt. Die falschen Gerüchte der feinen Gesellschaft nutzte er schamlos zu seinem Vorteil aus, ohne die Wahrheit ans Licht zu bringen.
»Was genau ist denn eigentlich in jener Nach passiert?«, fragte er schließlich. »Als ich hier ankam, hat dein Vater mir ein wenig davon erzählt, und du hast ebenfalls noch ein paar Andeutungen zu den Ereignissen gemacht, die sich damals hier abspielten, aber so ganz im Detail habe ich das alles noch nicht begriffen.«
»Es gibt da nicht mehr viel zu erzählen, zumindest weniger, als wir zunächst angenommen hatten.« Eine Locke baumelte seitlich an ihrer Wange, als sie den Kopf schüttelte. »Du weißt ja, dass Marguerite krank das Bett hütete. Theodore war von ihrem dauernden Weinen völlig entnervt und floh in die Stadt. Jeder auf Bonne Esperance war furchtbar aufgeregt, denn sein Onkel kämpfte schon seit einiger Zeit mit dem Leben. Er litt unter Auszehrung in fortgeschrittenem Stadium. Demeter pflegte ihn und braute einen Heiltrunk nach dem anderen, um seine Schmerzen zu lindern, sodass sie kaum Zeit für die Klagen der kleinen Patientin hatte. Marguerites Magenverstimmung mit Übelkeit und Durchfall übertrug sich schließlich auf den sowieso schon dahinsiechenden, alten Mann, der bald darauf das Zeitliche segnete. Die Familie gab Marguerite die Schuld am Tod des Onkels, sodass die Stimmung in der Folge mehr als angespannt war, weshalb ich mich entschloss, die Kleine nach Hause, nach River’s Edge, zu bringen.«
Es war bemerkenswert, dass Reine von River’s Edge als ihrem Zuhause sprach, obwohl sie bereits seit einigen Jahren auf Bonne Esperance verheiratet war, fiel Christien auf, aber er nickte nur zustimmend in Bezug auf das eben von ihr Geschilderte.
»Ihr Fieber stieg immer höher, bedenklich hoch, aber dann, in der zweiten Nacht, hier bei ihren Großeltern, sank die Temperatur wieder. Sie konnte wieder ruhig schlafen, und das Schlimmste schien überstanden. Ich habe sie in meinem alten Schlafzimmer zurückgelassen und bin in die Küche hinunter, denn ich war plötzlich sehr hungrig. Die letzten Tage hatte ich kaum geschlafen, immer nur an ihrer Seite
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