Im Zeichen der Angst Roman
noch nie gesehen.
Wenn man diese Räume betrat, suchte man automatisch nach ein wenig Leben. Nach einem irgendwo hingeworfenen Buch oder einer Zeitschrift, einer Socke, die vielleicht übersehen wurde, um dem Eindruck zu entkommen, man stünde in einer Kulisse.
Als Mankiewisc zurückkam, setzten wir uns an den Tisch. Zwei sechsarmige Kerzenleuchter versperrten mir die Sicht, und ich rückte sie zur Seite.
Vor uns standen drei dampfende Kaffeebecher. Mankiewisc legte die Hände um den Becher, pustete in seine Tasse und wagte dann einen ersten Schluck.
»Wirklich eiskalt hier«, stellte er etwas verspätet fest.
»Das Haus war ausgekühlt, und die Heizung ging erst nicht«, sagte ich.
»Und Sie haben sie in Gang bekommen?« Groß grinste.
»Nein, aber Madeleine. Sie kennt sich hier aus. Sie hat fünfmal die Woche für meine Mutter geputzt.«
»Das wissen wir«, sagte Groß.
»Wie weit sind Sie mit Ihren Ermittlungen?«, fragte ich.
»Es gibt da etwas.« Groß warf Mankiewisc wieder einmal einen seiner Blicke zu, als müsste er sich erst vergewissern, dass er reden durfte. »Christine Metternich hatte einen inoperablen Tumor im Gehirn.«
»Hat sie es gewusst?«
»Davon können Sie ausgehen«, sagte Groß. »Wir haben mit dem behandelnden Arzt an der Hamburger Universitätsklinik gesprochen. Er sagte, sie hätten es vor einem halben Jahr diagnostiziert
und sie hätte nur noch ein Jahr. Vielleicht ein paar Monate mehr, wenn sie Glück hätte. Unser Pathologe sieht es ähnlich, auch wenn er kein Fachmann ist.«
»Sie wäre so oder so gestorben?«
Groß nickte. »Wir haben in Christine Metternichs Haus etwas gefunden, und deshalb sind wir eigentlich hier.«
»Ja?« Ich nahm meinen Becher und goss etwas Milch hinein. »Wie kamen Sie überhaupt an einen Durchsuchungsbefehl, wenn es sich doch um Selbstmord handelte?« Ich schaute über den Becherrand hinweg von einem zum anderen. Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen.
»Weil der Staatsanwalt unseren Argumenten folgte und wir zunächst nicht ausschließen konnten, ob nicht doch Fremdeinwirkung im Spiel war«, sagte Groß.
»Und was fanden Sie nun?«
»Die Frau hatte enorme Probleme«, übernahm Mankiewisc das Gespräch und fügte nach einer Pause hinzu: »Das haben auch ein paar Leute hier im Dorf bestätigt …«
»Ihre Probleme waren unübersehbar«, unterbrach ich ihn. »Sie war Alkoholikerin, labil, aufbrausend, voller Wut und hochgradig frustriert. Aber vielleicht hing das mit ihrer Erkrankung zusammen.«
Mankiewisc musterte mich kurz wie einen Schüler, bei dem er noch überlegte, ob er ihn für die Beobachtungsgabe loben oder für die Unterbrechung strafen sollte. Er entschied sich, den Einwurf zu ignorieren, und sprach weiter.
Ich lauschte seiner Stimme, die gleichförmig und emotionslos von einer Frau erzählte, deren größter Fehler war, dass sie kein Ziel im Leben hatte und sich offenbar immer in die falschen Männer verliebte.
Alles begann nach den Aussagen von ein paar Dorfbewohnern damit, dass sie die Schule abbrach, als sie schwanger war. Es gab verschiedene Gerüchte, wer der Vater war. Manche meinten, es sei Tassilo von Weiden, andere sagten, es sei ihr
Stief bruder. Ihre Eltern bestanden jedenfalls auf einer Abtreibung. Sie ging folgsam nach Holland und trieb dort ab, doch als sie zurückkam, war sie nicht mehr dieselbe. Bei der Abtreibung war etwas schiefgegangen, und sie konnte keine Kinder mehr bekommen.
Madeleine wurde nur ein Jahr später, 1966, angeblich von Tassilo von Weiden schwanger. Sie jedoch bekam das Kind.
»Thomas Hart hat das bestätigt. Doch sowohl Madeleine als auch von Weiden leugnen bis heute, dass Rebecca von ihm ist«, warf Groß ein.
»Kann doch sein«, sagte ich, und Mankiewisc erzählte weiter, als hätten Groß und ich nichts gesagt.
Christine bekam nach Rebeccas Geburt einen Nervenzusammenbruch und versuchte, sich das Leben zu nehmen. Ihr Stiefbruder John fand sie in der Badewanne mit aufgeschnittenen Pulsadern. Sie konnte gerettet werden, verbrachte danach jedoch ein halbes Jahr in einer psychiatrischen Klinik wegen schwerer Depressionen und erneuter Suizidgefahr.
»Das hat der Bruder erzählt?«, fragte ich erstaunt.
»Wir haben es nachrecherchiert. Sie war in einer Privatklinik und hatte einen Nervenzusammenbruch.«
Nach ihrer Entlassung sei sie zurück zu ihren Eltern gegangen, nahm Mankiewisc den Faden wieder auf. Sie begann in Bad Oldesloe in einem Schuhgeschäft als Teilzeitverkäuferin zu
Weitere Kostenlose Bücher