Im Zeichen der Angst Roman
innerlich zerbrach, zerbrach mein Mann vor meinen Augen.
Ich setzte von einem Tag auf den anderen Sedativa und Antidepressiva ab. Ich rührte keinen Tropfen Alkohol mehr an. Ich war besessen von dem Gedanken, meine Tochter zu rächen und meinen Mann. Den Mann, den ich geliebt und den ich geheiratet hatte. Nicht den, der nach ihrem Tod nächtelang in seinem Büro verbrachte und noch mehr arbeitete als je zuvor aus einem einzigen Grund: um nicht nach Hause zu müssen. Nicht den, der mir sonntags beim Frühstück schweigend gegenübersaß und nicht wagte, auf den Platz zu schauen, an dem Johanna gesessen hatte. Nicht den, der sich nachts schluchzend in ihrem Bett vergrub, bis ich ein Sperrmüllunternehmen kommen und alles abholen ließ.
Doch ich liebte den Mann, der noch einmal vor Glück weinte, als ich ihm sagte, dass wir ein zweites Kind bekämen.
Und dieses Kind war jetzt in Gefahr.
Ich rief Claus an und sagte, ich bräuchte unbezahlten Urlaub. Vorläufig bis zu den Herbstferien. Es waren noch zehn Tage.
Er machte keine Einwände.
6
Bis zum ersten Ferientag stand der Polizeiwagen vor meiner Tür. Zehn Tage lang fuhr uns der Streifenpolizist Stefan Lichtenberg, der die Frühschicht hatte, morgens in die Schule. Jeden Morgen empfing uns im Auto der dumpfe, süßliche Geruch von Bratenfett, Burgern und Pommes aus leeren Schachteln und Tüten, die unter dem Beifahrersitz hervorquollen. Stefan war jung, hatte eine blasse Haut und noch Akne im Gesicht. Doch er war Bester seines Jahrgangs auf der Polizeischule gewesen. In zwei Jahren wollte er sich für eine Ausbildung zum höheren Dienst bewerben und später zur Mordkommission gehen.
Vor dem Haupteingang der Schule blieb Stefan im Wagen sitzen, bis Josey mittags mit Melissa herauskam. Josey fand das cool. Manchmal ging ich von dort aus an die Alster, manchmal ging ich gleich nach Hause und setzte mich an meinen Schreibtisch, um das Konzept für einen neuen Roman zu entwickeln. Es half mir, mich abzulenken.
Das eine oder andere Mal, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, blieb ich neben ihm im Wagen sitzen und wir unterhielten uns.
Mittags brachte er Josey wieder nach Hause, nachdem er Melissa abgesetzt hatte.
Doch es geschah nichts.
Claus kam manchmal nach Redaktionsschluss vorbei, dann tranken wir einen Wein und aßen zusammen. Meistens brachte er Sushi mit oder thailändische Kleinigkeiten, die er am Gänsemarkt bei »Essen und Trinken« besorgte. Er hielt nicht viel von meinen Kochkünsten. Ich hatte Verständnis dafür. Ich hielt auch nicht viel von ihnen. Ich konnte Kartoffeln und Blumenkohl mit einer Sauce Hollandaise zubereiten, Erbsen aus der Dose aufwärmen und Koteletts braten. Meine Spaghetti mit Tomatensoße aus der Dose, verfeinert mit gekochten Schinkenstreifen,
waren der Hit. Jedenfalls für eine Sechsjährige, die die Nummer des Pizzadienstes seit ihrem vierten Lebensjahr auswendig kannte. Einen 44-jährigen Gourmet konnte ich damit nicht hinter dem Ofen hervorlocken.
Groß und Mankiewisc kamen zweimal vorbei, um mich auf dem Laufenden zu halten, wie sie sagten.
Das erste Mal kamen sie nach drei Tagen. Sie erzählten mir, dass es auf dem Umschlag bis auf Claus’ und meine Fingerabdrücke keine Spuren gab, dass der Umschlag selbst ein ganz normaler Büroumschlag war, wie sie täglich zu Dutzenden gekauft wurden. Es war so gut wie unmöglich, auf diese Weise an den oder die Täter zu gelangen. Sie hatten jedoch den Kurierdienst zurückverfolgt. Ein Sechzehnjähriger hatte den Umschlag in der Zentrale abgegeben.
»Und haben Sie ihn gefunden?«
»Wir sind dran«, sagte Groß. »Aber der war vermutlich nur vorgeschickt. Wahrscheinlich ein Junkie vom Bahnhof. Die Zentrale liegt genau gegenüber auf der anderen Seite. Der Angestellte, der den Auftrag entgegennahm, hat mit einem unserer Techniker ein Phantombild gezeichnet. Damit gehen ein paar Kollegen von uns am Hauptbahnhof herum.«
»Glauben Sie wirklich, das bringt was?«
Groß zuckte die eckigen Achseln.
Sie hatten inzwischen versucht herauszubekommen, woher die Fotos stammten. Sie gingen davon aus, dass die Fotos mit einer Digitalkamera von älteren Fotos abfotografiert und über einen Heimdrucker ausgedruckt worden waren. Es war eine Spur, die zu nichts führte.
Bedauerlicherweise war das Handy meiner Mutter ein Prepaid-Handy, für das man keinen Anbieter brauchte. Der Speicher war gelöscht, und da weder die eingehenden noch die ausgehenden Anrufe von einem Provider
Weitere Kostenlose Bücher