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Im Zeichen der gruenen Sonne

Im Zeichen der gruenen Sonne

Titel: Im Zeichen der gruenen Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Rothe
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aufspritzte. »Verdammter Sand! Verdammte Sonne!«
    Die Wut wich der Angst. Tat es weh, wenn man verdurstete? Würde es lange dauern? Was würde ihr passieren, wenn sie tot war? Sie rollte sich ein, wie ein Embryo zog sie die Knie an ihre Brust und weinte. Ihre Tränen rollten von ihrem Gesicht in den Sand, wo sie dunkle Flecken bildeten.
    Flap – Flap – Flap!
    Ein Geräusch ließ sie hochfahren.
    Flap – Flap – Flap!
    Da war es wieder, ein Geräusch, als ob jemand ein Bettlaken ausschlüge!
    Flap – Flap – Flap!
    Zum Kuckuck, dieses Geräusch war hier, irgendwo in ihrer unmittelbaren Umgebung, ganz nah, deutlich zu hören! Möhre drehte sich zu allen Seiten, aber weit und breit war nichts zu sehen!
    Flap – Flap – Flap!  … und auf einmal sah sie die Quelle des Geräuschs: ein Vogel, ein winziges Pünktchen, das weit, weit hinten am Horizont flog! Das Geräusch war sein Flügelschlag, der bis zu Möhre herüberschallte. Plötzlich war sie völlig klar und ruhig. Die Stille, diese unglaubliche Stille der Wüste überwältigte sie und nahm sie gefangen. Stumm saß sie da und lauschte. Mit einem Mal erschien ihr die Stille der Wüste großartiger als alles, was sie je erlebt hatte. Sie machte sie winzig klein, ein unwichtiges Pünktchen in einem unendlich weiten, lautlosen Raum – diese Stille, diese unglaublich mächtige Stille war der Ewigkeit vorbehalten. Jetzt war Möhre ein Teil davon, und sie spürte, dass ihr eigener Tod in der Wüste genauso wichtig oder unwichtig war wie der Tod der unzähligen Fliegen, die sie tagsüber erschlagen hatte. Kein Leben war hier wertvoller als das andere. Wenn sie jetzt sterben würde, bliebe das Rad der Zeit nicht stehen, die Wüste würde sie mit Sand zudecken, und alles würde weitergehen. In hundert Jahren, ein Wimpernschlag in der Geschichte, würde niemand mehr wissen, dass es überhaupt mal eine Möhre gegeben hatte.
    Möhre stand auf, holte tief Luft und ließ sie mit einem Schrei aus dem Körper entweichen. Noch war sie da! Und Lärm zu machen, zu schreien, das war ihre Art, es der Wüste zu zeigen. Ihre Lippen waren aufgesprungen, das Blut schmeckte leicht metallisch. Ihr Gaumen und ihre Zunge waren geschwollen, die Haut auf ihrem Gesicht so verbrannt und eingerissen, dass sie kaum die Augen öffnen konnte.
    Hoffentlich werde ich als was Schönes wiedergeboren, dachte sie, während sie ziellos durch den Sand torkelte. Vielleicht als Koralle oder Seeanemone! Dann hocke ich bloß auf einem Fleck, esse, was mir ins Maul schwebt, und trinke Wasser, bis es mir zu den Ohren rauskommt. Als das Zittern in ihren Beinen zu stark wurde, fiel sie vornüber und landete der Länge nach im Sand. Mit dem Gesicht nach unten blieb sie liegen. Wenn’s bloß nicht so lange dauern würde, dachte sie und hob ihr über und über mit Sand bedecktes Gesicht vom Boden.
    »Bonjour, Madame, est-ce que vous avez reservé une table pour ce soir?«
    Möhre glaubte zuerst, das Opfer einer Halluzination zu sein. Als sie die Augen öffnete, sah sie ein paar perfekt polierte Lackschuhe. Ganz langsam ließ sie ihren Blick höher wandern … über die karierte Bundfaltenhose mit der messerscharfen Bügelfalte, über die schwarze, kurze Weste, das blütenweiße Hemd, die kleine schwarze Fliege und den kugelrunden Kopf mit den sauber in der Mitte gescheitelten Haaren, die vor lauter Pomade ölig glänzten.

    Ein gepflegter, geradezu geschniegelter Herr, der sich ein Staubkörnchen von der Hose schnippte, stand da, mitten in der Sonne, mitten in der Wüste, mitten im Nirgendwo und blickte Möhre vornehm an. Möhre brachte vor lauter Überraschung kein Wort hervor.
    »Vous ne parlez pas français?«, fragte er höflich. »Sprechen Sie kein Französisch?«
    Möhre, die immer noch auf dem Boden lag, kam sich plötzlich sehr albern vor. Dieser gepflegte Herr, dem die Hitze offenbar gar nichts ausmachte, musste ja Gott weiß was von ihr denken … Langsam stand sie auf.
    »Ich, äh … tja, also verstehen tu ich Sie schon, nur hab ich keinen Schimmer, wovon Sie reden!«
    Jetzt sah Möhre, dass diesem Mann ein Geschirrtuch über dem Arm hing und ein kleiner Notizblock aus seiner Brusttasche herausschaute. Kein Zweifel, er war ein Kellner!
    »Haben Madame einen Tisch bestellt?«
    Dieser Mann wurde immer rätselhafter. Einen Tisch? Hier?
    »Äh, nein!«
    »Uiii!«, quiekte der Kellner und zog die Augenbrauen hoch. »Also keine Vorbestellung – da muss ich erst mal sehen, was sich machen

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