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Im Zeichen der Roten Sonne

Im Zeichen der Roten Sonne

Titel: Im Zeichen der Roten Sonne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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begab ich mich zum Heiligtum von Sugati. Die Stufen waren nass und glitschig. Auf das mächtige Portal mit den zwei großen Querbalken hämmerte der Regen. Hölzerne Türflügel führten ins Innere des Heiligtums, dessen Decke von vier gewaltigen Pfeilern getragen wurde. Sie stellten die vier Himmelsrichtungen dar. Von dem dicken Tau aus Reisstroh über dem Altarschrein tropfte die Feuchtigkeit. Es roch nach kaltem Weihrauch und modrigem Holz. Oshiba, die Große Ahnin, erwartete mich. Sie schien mir in kurzer Zeit sehr gealtert. Ihre dünne Gestalt war zusammengesunken. Doch ihre Augen, von bläulichen Schatten umzogen, schimmerten nach wie vor aufmerksam und scharf. Ich fiel auf die Knie, berührte mit der Stirn die Matte. Mit einer Handbewegung hieß sie mich aufstehen. Sie wusste, warum ich gekommen war.
    Ihre weiten Ärmel schleiften über den Boden, während sie Feuer in den Räucherschalen anzündete. Ich wartete, bis der Rauch hochstieg, dann stellte ich mich in den Mittelpunkt des Raumes und sprach die heiligen Worte aus:
    Â»Im Namen von allem, was ist , möge die Große Erlauchte Göttin meinen Geist erleuchten.«
    Dann kniete ich vor einem bronzenen Dreifuß nieder, brachte die Kohle mithilfe eines Holzscheites zum Glimmen. Bald glänzten die ersten Fünkchen rot, und Oshiba rieb mir Schläfen und Handgelenke mit Kräuterbalsam ein, der einen süßlich herben Duft ausströmte. Mein Mund wurde trocken. Mein Herz schlug langsam und schwer. Inzwischen breitete Oshiba verschiedene Gegenstände auf einem weißen Tuch vor mir aus. Ich warf eine Kirschbaumrinde vom Berg des Himmlischen Duftes in das Feuer. Als die Rinde glühte, legte ich darauf das Schulterblatt eines Damhirsches und richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die züngelnden Flammen.
    Ich brauchte nicht lange zu warten. Schon bald zeigte ein trockenes Zischen, ein Aufsprühen von Funken, dass der Knochen barst. Ich blieb reglos sitzen, bis das Feuer verglühte. Dann wickelte ich das weiße Tuch um meine Hände und nahm den Knochen aus der heißen Asche. Der Geist des Heiligen Hirsches, Herrscher der Unterwelt, war bereit, mir seine Antwort zu übermitteln. Unter dem wachsamen Blick von Oshiba fiel ich in Trance und deutete die Zeichnung des Knochens. Es nahm geraume Zeit in Anspruch. Als ich zu mir kam, sah ich schweißgebadet und todmüde zu, wie Oshiba alle Gegenstände ordnete. Dann brachte sie mir ein sauberes Tuch, mit dem ich mein Gesicht trocknete, und reichte mir eine Schale heißen grünen Tees. Während der ganzen Zeit sprach keine von uns ein Wort.
    Als ich wieder bei Kräften war, kehrte ich zum Palast zurück und erbat eine Audienz bei Majestät-Wächter-des-Mondes. Ich fand ihn allein in seinen Gemächern, in düstere Gewänder gekleidet. Das Licht der Fackeln beleuchtete sein müdes Gesicht. Doch in seinen Augen schimmerte die ihm eigene verhaltene Ironie. Mit höflicher Verbeugung lud er mich ein, sein Mahl mit ihm zu teilen, das der Hungersnot wegen vorwiegend aus Reiskleie bestand. Wir aßen schweigend, wie es die Sitte verlangte. Dann räumte eine Dienerin die Schalen ab und zog die Schiebewand zu.
    Â»Folgendes«, sagte ich, »hat mir das Orakel offenbart: Man nehme den Bronzespiegel, der das Bild des Lebensbaumes trägt, und befestige ›Tamas‹ an langen Fäden. Vor der Himmlischen Grotte wächst ein immergrüner ›Sakaki-Busch‹. Man hänge die ›Tamas‹ in den oberen Ästen auf, den Heiligen Spiegel in den mittleren und weiße und grüne Bänder in den untersten Zweigen auf. Dann versammle sich das Volk. Man spiele Flöte und schlage die Trommel. Und die ehrenwehrte Ama-no-Uzume tanze vor der Grotte …«
    War mein Onkel überrascht, so ließ er sich nichts anmerken. Er wusste, dass das Orakel sich durch meinen Mund offenbarte.
    Â»Es soll geschehen«, antwortete er, »wie Ihr es anordnet.«
    Er rief die Dienerin und schickte sie nach Ama-no-Uzume. Sie war unter den zahlreichen Hofdamen die verführerischste und schönste. Als unvergleichliche Musikantin und Tänzerin war sie bei allen Festen, allen Banketten der strahlende Mittelpunkt. Man schrieb ihr auch Hochmut, Eigensinn und Ehrgeiz zu. Außerdem war es bekannt, dass sie nach einer kurzen Liebschaft mit dem , dessen Name verflucht ist, von ihm verschmäht worden war. Dass er in

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