Im Zeichen der Sechs
die Aussicht darauf erfüllt mich mit Verzweiflung«, sagte Presto. »Das Ritual der Jagd, den Kitzel der Eroberung aufzugeben und alles, was ich mir bei einer Frau wünsche, gleich im ersten Augenblick überreicht zu bekommen, ohne Widerstand, ohne das geringste sittsame Zögern – das würde mir das ganze Erlebnis verderben.«
»Dann haben Ihnen Ihre Besuche im Harem also eigentlich gar keinen Spaß gemacht?« Innes war wie ein Hund, der immer wieder seinen Lieblingsknochen ausgrub.
So ging die Diskussion weiter, lebhaft und angeregt, und nirgends kam eine Einigung zustande – als ob bei dieser komplexen und heiklen Angelegenheit irgend etwas jemals geklärt werden könne. Doyle warf einen Blick zu Jack hinauf, der die Kutsche lenkte und die Teilnahme an eben jener Art von philosophischem Freistilringen versäumte, an der er immer so besonders viel Vergnügen gehabt hatte. Sicher konnte Jack auf seiner hohen Warte hören, was sie sagten, aber er schaute nie zu ihnen herab, sondern wirkte wie ein Leuchtturmwärter, der ein Unwetter auf hoher See beobachtete. Wie weit war Jack wohl entfernt vom Zugriff dieser essentiellen, animalischen Sorgen – und wenn sie für alle Zeit für ihn verloren waren, konnte er dann immer noch auf die gleiche Weise als Mann gelten?
Es war fast ein Uhr morgens, als ihr Ziel in Sicht kam, in einem Tal, das sich unter ihnen ausbreitete, erhellt von einer unglaublichen Menge Licht. Ein Geviert von langgestreckten Ziegelbauten, umringt von elektrischen Laternen und einem hohen, weißen Lattenzaun. Keine erklärenden Schilder. Nach einem geflüsterten Wortwechsel mit einem Wachtposten am Tor wurde die Kutsche eingelassen; Jack fuhr sie zum höchsten Gebäude in der Mitte des Platzes und hielt davor an. Durch die großen Fenster sahen sie endlose Säle voller Maschinen, Laborgeräte und wissenschaftlicher Instrumente.
Sie folgten Jack durch eine Stahltür, einen Gang hinunter und in eine große Halle mit einer zehn Meter hohen Decke; an der Wand gegenüber erhoben sich Bücherregale, in Höhe des ersten Stocks zu beiden Seiten flaniert von Galerien – sie enthielten wohl an die zehntausend Bände, schätzte Doyle. In riesigen Glasschränken waren Mineralien und Präparate sowie die Prototypen diverser Erfindungen ausgestellt. Griechische Statuen drängten sich in den Ecken; Fotografien und Gemälde füllten die Wände bis auf den letzten freien Quadratzoll. Der Raum wirkte vollgestopft und geräumig zugleich, objektiv großartig und zugleich intensiv persönlich.
An einem einfachen Rolltop-Schreibtisch in der Mitte des Saales saß ein zerknautschter Mann mittleren Alters zusammengesunken und mit dem Rücken schräg zu ihnen auf einem Kippstuhl. Seine abgetragenen Stiefel ruhten auf der Kante einer offenen Schublade. Er schien zu schlafen. Auf seinem Schoß lag eine Stahlschüssel, über die er seine Hände gefaltet hatte. In alle Himmelsrichtungen zerzaustes graues Haar bedeckte seinen großen, vornehmen Kopf. Jack bedeutete den andern, still zu sein, und schlich sich näher an den Mann auf dem Stuhl heran. Lionel Stern schnappte plötzlich nach Luft.
»Wissen Sie, wer das ist?« fragte er. Zwei Stahlkugeln fielen dem Mann aus der Hand und landeten scheppernd in der Schüssel. Der Lärm ließ ihn hochfahren, und er war auf der Stelle hellwach und schaute sie an. Die breite Stirn wurde von einer tiefen Furche zwischen den buschigen weißen Brauen gespalten, der Mund war breit und unwillig, und in den Augen leuchtete eine überaus scharfe Intelligenz. Jack erblickte er als ersten, und er winkte ihn zum Tisch, schüttelte ihm die Hand und wechselte leise ein paar freundliche Worte mit ihm. »Das ist Thomas Edison«, sagte Stern. Jack winkte sie herüber und stellte sie vor; Edisons Miene strahlte auf wie seine berühmte Glühbirne, als er mit Doyle bekannt gemacht wurde.
»Der Holmes-Generator leibhaftig«, sagte Edison lachend; als sie alle verdutzt schwiegen, erklärte er, der ›Holmes-Generator‹ sei in wissenschaftlichen Kreisen wohlbekannt als Vorläufer des elektromagnetischen Motors. »Oh«, sagte Doyle.
Edison schien außerstande zu sein, seiner Begeisterung für Sherlock Holmes mit hinreichend starken Worten Ausdruck zu verleihen; ansonsten wimmelten die meisten Romane ja nur so von Geschöpfen von derart uninspirierter und traniger Dümmlichkeit, daß es ein Wunder sei, wie überhaupt ein Autor über sie schreiben könne – aber welch eine Freude, bei einer fiktionalen
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