Im Zeichen der Sechs
Presto eben wieder in seinen Spazierstock zurückschob.
»Meister im Degenfechten in Oxford, drei Jahre hintereinander«, sagte Presto. »Habe ihn aber noch nie jemandem in den Bauch gerammt. Absichtlich, meine ich.«
Sie liefen eilig die Treppe hinauf in das vom Lampenlicht erleuchtete Zimmer.
Rabbi Brachman saß friedlich auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch, vornüber gesackt, als habe er bei der Arbeit den Kopf zum Ausruhen sanft auf die Tischplatte sinken lassen. Die brennende Lampe beschien seine offenen Augen und seine pergamentweiße Haut.
Jack stand dem Leichnam gegenüber und untersuchte eingehend den Tisch, als die andern hereinkamen. »Sind entkommen, ja?«
»Zwei von ihnen«, sagte Presto.
»Aber nicht ohne Beulen«, fügte Innes hinzu; die seinen waren akut zu spüren.
»Nehme an, das war Ihr Werk«, sagte Presto. »Der da draußen im Flur.«
Jack nickte.
»Sie haben einen erwischt?« fragte Innes. »Glänzend.«
»Ich wollte ihn nicht umbringen«, sagte Jack. »Tot nützt er uns nichts.«
Jetzt erst sah Innes den Rabbi. »Gütiger Gott, der ist auch tot?«
»Das Talent zur deduktiven Logik ist in dieser Familie tief verwurzelt«, stellte Jack fest.
»Haben die ihn umgebracht?« fragte Innes, viel zu verdattert, als daß er die Beleidigung zur Kenntnis genommen hätte.
»Tödliche Injektion«, sagte Jack und deutete auf ein mattrotes Mal am Arm des Rabbi. »Die gleiche Methode, mit der sie Rupert Selig an Bord der Elbe ermordet haben.«
»Der arme alte Knabe.« Presto war ehrlich betrübt. »Zwölf Enkelkinder, sagte er, glaube ich.«
»Arthur war der Meinung, sie hätten Selig zu Tode erschreckt«, sagte Innes.
»Arthur hat sich geirrt«, erwiderte Jack ungeduldig. »Die Injektion erweckt den Eindruck eines Herzanfalls: Das wollen sie uns glauben machen. Schauen Sie sich den Toten im Flur an. Und halten Sie die Augen offen, für den Fall, daß die anderen zurückkommen; ich habe hier noch zu tun.«
»Ich werde mir zuvor einen Augenblick Zeit nehmen, den Verblichenen zu ehren«, entgegnete Presto brüsk. »Er war ein braver Mann; er hat ein wenig Rücksicht und Anstand verdient.«
Jack starrte ihn an; Innes konnte nicht feststellen, ob erschrocken oder beleidigt.
»Oder ist Ihnen noch nicht in den Sinn gekommen, Jack, daß Brachman noch leben könnte, wenn wir nicht haltgemacht hätten, um Ihren verdammten Koffer zu holen?«
Jack schlug den Blick nieder und wurde dunkelrot. Innes war entsetzt über Prestos intensiven Zorn; er fand ihn zwar auch gerechtfertigt, aber daß man ihm in Gegenwart eines Toten Ausdruck verlieh, gab ihm das Gefühl, als stehe er nackt vor seiner Algebraklasse.
Presto drückte Rabbi Brachman behutsam die Augen zu, schloß die eigenen ebenfalls für einen Moment, sprach ein stilles Gebet, bekreuzigte sich und stolzierte dann hinaus. Innes wollte ihm folgen.
»Bleiben Sie bei mir«, sagte Jack. »Wirklich?« »Ich brauche Sie.«
Innes nickte zögernd. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, wie er es Arthur schon oft hatte tun sehen – wodurch sich eine tiefergehende Nachdenklichkeit andeutete –, und schlenderte zu Jack hinüber.
»Hatte einer der beiden Männer, die Sie verfolgt haben, etwas bei sich?« fragte Jack.
»Einer hatte eine schwarze Tasche«, sagte Innes, und dann ging ihm ein Licht auf. »Glauben Sie –«
»Das falsche Sohar.« Jack nickte. »Sie haben es ihm gezeigt und versucht, ihn zu zwingen, seine Meinung dazu abzugeben. Sie haben also Zweifel an seiner Echtheit.«
»Unwahrscheinlich, daß der Rabbi sie ausgeräumt hat, meinen Sie nicht auch? Er muß sich geweigert haben – ich meine, weshalb hätten sie ihn sonst umbringen sollen?«
»Weil sie uns gehört haben. Doch nein, ich glaube nicht, daß er ihnen etwas gesagt hat.«
Jack trat an den Leichnam heran; seine Augen waren weit offen wie die einer Katze und glitzerten durchdringend. »Brachman hat an seinem Schreibtisch gearbeitet, als er sie hereinkommen hörte – frische Tintenspuren hier, an seinem Handballen, und das Tintenfaß ist offen. Was läßt das vermuten?«
Innes machte eine nachdenkliche Pause. »Daß er, wie Sie sagten, gearbeitet hat.«
»Nein.« Jack schloß ungeduldig die Augen. »Was sagt es uns über den Zustand seines Schreibtisches?«
Innes studierte die Szene, nervös wie ein Student beim Abschlußexamen. »Es liegen keine Papiere hier. Vielleicht hat er etwas versteckt.«
»Und zwar an einem Ort, den nicht einmal diese professionellen
Weitere Kostenlose Bücher