Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Zeichen der Sechs

Im Zeichen der Sechs

Titel: Im Zeichen der Sechs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Frost
Vom Netzwerk:
vergebungsheischend.
    »Es tut mir leid, daß ich nichts von Ihnen gelesen habe.«
    »Das ist schon recht; wenn ich ehrlich bin, ist es sogar eine gewisse Erleichterung. Nun – und gelten Sie als Ärztin bei Ihrem Volk, Miß Williams?«
    Die Allein Geht wartete wieder mit ihrer Antwort. Sie vertraute diesem Mann aus irgendeinem Grund; es war ungewöhnlich, daß sie einem Weißen vertraute. Er schien über ihre Bräuche genausowenig zu wissen wie alle anderen Weißen, aber er erwies ihr einen unverblümten Respekt, den sie nicht gewohnt war. Er besaß Stärke, aber er hatte es nicht nötig, viel Aufhebens davon zu machen wie so viele Weiße. Sie fragte sich, ob die Leute in seiner Heimat so waren; sie war noch nie einem Englishman begegnet.
    »Ja«, sagte sie schließlich.
    »Und Sie können so deutlich sehen, daß mein Freund krank ist?«
    »Mehr noch: Sein Leben ist in Gefahr.«
    Doyle setzte sich gerade. Er nahm sie ernst. »Dann ist es eine körperliche Erkrankung.«
    »Jetzt ist die Krankheit noch im Geiste, aber sie wird eines Tages in den Körper kommen. Bald.«
    »Könnte man ihn heilen, bevor das geschieht?«
    »Ich müßte mehr von ihm sehen, bevor ich das sagen kann.«
    »Glauben Sie, Sie könnten ihm helfen?«
    »Das möchte ich jetzt nicht gern sagen.«
    »Wie würden Sie seine Krankheit behandeln?«
    »Man muß die Krankheit aus ihm herausnehmen.«
    »Wie würden Sie das anstellen?«
    »Bei unserer Medizin entfernt der Arzt die Krankheit aus einer Person, indem er sie auffordert, die Person zu verlassen und in seinen eigenen Körper zu kommen.«
    »Das hört sich an, als könnte es gefährlich für Sie sein.«
    »Das ist es.«
    Doyle betrachtete sie im Licht des Feuers. Ernst und aufrichtig starrte sie in die Flammen. Bescheidene, zuversichtliche Kraft strahlte sie aus. Er erinnerte sich an Roosevelts schäumende Tirade gegen die Indianer, und ihn schauderte bei dem Gedanken an das bornierte Kompendium von Klischees über sie, das er selbst mit sich herumgeschleppt hatte. Wenn Mary in irgendeiner Weise beispielhaft war, dann waren sie offenkundig anders als die Weißen – das Produkt einer anderen Kultur, ja, einer anderen Rasse –, aber es gab keinen Grund, diese Frau zu fürchten oder zu verachten. Und den Vorurteilen seiner konventionellen Ausbildung zum Trotz konnte er sehr wohl glauben, daß sie Heilkraft besaß.
    »Was tun Sie mit der Krankheit, wenn Sie sie von ihnen genommen haben?«
    »Ich schicke sie irgendwohin, in die Luft, ins Wasser, oder in die Erde. Manchmal ins Feuer. Es kommt auf die Krankheit an.«
    Doyle dachte an Jacks Geschichte von den En-agua in Brasilien. »Und Sie verwenden verschiedene Kräuter und Wurzeln als Hilfsmittel, medizinische Präparate.«
    »Ja«, sagte sie und war überrascht, daß er das wußte. »Manchmal.«
    »Was verursacht diese Art Krankheit? Sie sagen, sie kommt von außen.«
    »Wenn die Welt ungesund gemacht wird, schafft sie mehr Krankheiten. Diese gehen von der Welt in die Menschen.«
    »Und wie ist die Welt krank geworden?«
    »Die Menschen haben sie krank gemacht«, antwortete sie schlicht. »Und wenn die Krankheit in sie fährt, dann kehrt sie nur dahin zurück, wo sie hergekommen ist.«
    »Also glauben Sie, daß die Welt gesund war, bevor der Mensch kam?«
    »Sie war im Gleichgewicht, ja«, sagte sie. Bevor die Weißen kamen, dachte sie.
    Er sah sie offen und ehrlich an. »Wenn also jemand krank wird, dann glauben Sie, daß es nur ein Spiegelbild dessen ist, was bereits in ihm ist.«
    »So ist es meistens.«
    »Miß Williams, ich bitte Sie, mir offen zu sagen: Besteht die Chance, daß Sie meinen Freund heilen können.«
    »Das ist schwer zu sagen. Ich weiß nicht, ob Ihr Freund das will.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Manchmal entwickelt ein Mensch eine Bindung zu seiner Krankheit; manchmal glaubt er nach einer Weile, die Krankheit sei realer als er selbst.«
    »Und das ist meinem Freund passiert?«
    »Ja, das glaube ich.«
    »Dann könnte er nicht geheilt werden. Von niemandem.«
    »Nicht, wenn die Bindung so stark ist. Nicht, solange er nicht zu dem Schluß kommt, daß er es so will. Er ist zu sehr verliebt in den Tod.«
    Sie sieht ihn klar, das steht fest, dachte Doyle. Er trank seinen Brandy aus: Jack konnte sicher nach allen medizinischen Maßstäben als verrückt gelten. Ob es eine Medizin gab, die ihn zurückbringen könnte, blieb abzuwarten.
    Ein scharfes Klopfen an der Tür erschreckte sie. Doyle öffnete vorsichtig einen

Weitere Kostenlose Bücher