Im Zeichen der Sechs
Diebe so leicht finden konnten. Wo mag das sein?« fragte Jack.
Innes sah sich langsam und mit krauser Stirn im Raum um und nickte ein paarmal nachdenklich, bevor er bekannte: »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Nehmen wir an, daß der Rabbi im besten Fall zehn Sekunden Zeit hatte, von dem Augenblick an, wo er die Männer kommen hörte, bis sie in sein Zimmer kamen.«
»In seiner Nähe also – irgendwo im Schreibtisch?«
»Da habe ich schon gesucht. Gründlich.«
»Eine lose Bodendiele? Unter dem Teppich?«
»Weniger offensichtlich.« Jack beobachtete ihn mit verschränkten Armen.
Dies ist eine Prüfung, erkannte Innes: Na, Arthur hat mir gesagt, daß der Mann wunderlich ist. Er studierte den Schreibtisch und warf kurze Blicke in die Ablagefächer, als gedenke er, sich unbemerkt an sie heranzuschleichen. Untersuchte das Tintenfaß. Hob die Löschpapierunterlage und fand einen Schlitz in der Seite.
»A-ha«, sagte Innes.
»Nein. Schon nachgeschaut. Leer«, sagte Jack.
Innes trat zurück, um bessere Übersicht zu gewinnen, stemmte die Hände in die Hüften und stieß mit dem rechten Ellbogen die Lampe vom Schreibtisch. Sie zerbrach auf dem Boden, und kleine Flammen züngelten aus der Ölpfütze. Er trat sie aus und setzte beinahe seinen Stiefel in Brand. Dann standen sie beide im Dunkeln.
»Mist«, sagte Innes; ihm war ganz und gar nicht behaglich dabei, im Dunkeln so nah neben einem eben Verstorbenen zu stehen. »Tut mir leid.«
Jack schaltete seine tragbare Lampe ein und beleuchtete die Glasscherben auf dem Boden.
»Sie haben’s geschafft«, sagte er.
»Ich sagte doch, es tut mir leid –«
»Nein – Sie haben es gefunden.«
Innes schaute zu Boden und sah Papier zwischen den Trümmern der Lampe.
»Nun, es ergab sich ja zwangsläufig, nicht wahr?« sagte er und nahm den Erfolg mit Vergnügen in Anspruch. »Ich meine, die Lampe in unmittelbarer Reichweite. Und so wenig Zeit.«
Jack hob die Papiere auf und studierte sie im Schein seiner Laterne. Das eine war eine gedruckte Liste der Teilnehmer am Parlament der Religionen, das andere eine handschriftliche Notiz.
»Alles in Ordnung?« Presto kam wieder herein.
»Durchaus«, sagte Innes und versuchte erfolglos, Jack über die Schulter zu spähen.
»Wozu stehen Sie denn im Dunkeln?« fragte Presto.
»Ich habe die Lampe untersucht«, erklärte Innes. »Und aus Versehen umgestoßen.«
»Der Mann im Flur hat eine Narbe auf der Innenseite des linken Arms. Einen von drei Linien durchbrochenen Kreis«, berichtete Presto. »Was haben Sie denn da?« Er kam näher.
»Für den bedauerlichen Preis seines Lebens«, sagte Jack spitz, »haben wir hier die Antwort bekommen, die wir gesucht haben.«
»Ich möchte Ihre Meinung über meinen Freund Jack hören«, sagte Doyle leise.
Die Allein Geht sah ihn eine ganze Weile an. Dann nickte sie. »Er ist sehr krank.«
»Sagen Sie mir, inwiefern«, bat Doyle.
Sie wählte ihre Worte sorgfältig, ehe sie fortfuhr; sie spürte, wie besorgt dieser Mann um seinen Freund war, und sie wollte ihn nicht unnötig betrüben. »Ich sehe die Krankheit in ihm; sie ist wie eine Last oder … wie ein Schatten hier drin.« Sie deutete auf ihre linke Seite. »In ihm ist sie sehr mächtig.«
Sie saßen vor dem Kamin in Doyles Suite im Palmer House, Die Allein Geht mit gekreuzten Beinen vor dem Feuer auf dem Boden, Doyle in einem Lehnstuhl und mit einem Brandy in der Hand. Ein erschöpfter Lionel Stern lag schlafend auf dem Sofa, und der Kasten mit dem Sohar stand zwischen ihnen auf dem Tisch.
»Sie klingen wie eine Ärztin, Miß Williams«, bemerkte Doyle.
»Mein Großvater hat mich gelehrt; er hatte starke Heilkraft. Aber unsere Medizin ist ganz anders als die Ihre.«
»Inwiefern?«
»Wir glauben, daß die Krankheit von außen kommt und in den Körper eindringt. Dort kann sie sich lange Zeit verbergen und wachsen, bevor sie sich bemerkbar macht.«
»Wie das? Ich bin selbst Arzt.« Doyle war ehrlich neugierig, und er beschloß, ihr sein Vertrauen zu zeigen, in der Hoffnung, dafür das ihre zu erhalten. »Das heißt, ich wurde dazu ausgebildet. Und ich glaube in der Tat, daß manche Menschen eine angeborene Gabe zum Heilen haben. Ich wünschte, ich könnte behaupten, daß ich dazugehöre; ich habe hart für die Medizin gearbeitet, aber besonders leicht ist es mir nie gefallen.«
»Also sind Sie statt dessen Bücherschreiber geworden.«
»Man muß ja irgendwie seine Brötchen verdienen, nicht wahr?« Er lächelte
Weitere Kostenlose Bücher